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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich
Autoren: Maarten 't Hart
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dort Gras oder noch besser Löwenzahn für ihre Belgischen Riesen, Lothringer oder Holländer zu schneiden, die zur Weihnachtszeit an die Außendeicher verkauft werden sollten.
    In all den Jahren des Kalten Kriegs blieb der Beschluss, das gesamte Gebiet wegzusanieren, in Kraft, doch es passierte nichts. Wobei das Schicksal der in den für unbewohnbar erklärten Häusern aufwachsenden Kinder der Gemeindeverwaltung nicht vollkommen gleichgültig zu sein schien, denn einmal im Jahr wurden sie, vorausgesetzt, sie waren nicht älter als zehn, kostenlos zu einer Bootsfahrt eingeladen. Unsere Mütter brachten uns dann in die Veerstraat, wo wir in einen Prahm der Brüder van Baalen stiegen, mit dem sonst Sand transportiert wurde und in dessen Frachtraum niedrige Bänke standen, auf denen wir hin und her schaukelten. Da es keine Bullaugen gab, konnten wir nur den blauen Himmel über uns sehen, doch wir spürten, dass wir durch die Schilfgebiete fuhren, und eine Betreuerin, die an Deck saß, berichtete uns von den Schilfhalmen, Weiden und Reihern, die zu sehen waren.
    Weil das Viertel sowieso von der Landkarte verschwinden würde, wurde es von der Gemeinde vernachlässigt. Während anderswo in der Stadt die Gasbeleuchtung durch elektrische Lampen ersetzt wurde, brannten unter dem Deich die Gaslaternen einfach weiter. Noch 1963 gab es in dem Viertel sechzehn Gaslaternen. Um diese anzünden und wieder löschen zu können, musste dreimal am Tag der Gasdruck im gesamten Leitungssystem für drei Minuten von zweiundzwanzig mbar auf vierundvierzig mbar erhöht werden. Hatte man während dieser Zeit den Gasherd an, dann konnte man beobachten, wie die Flammen unter den Töpfen plötzlich aufbrausten. Und dann dachte man immer: Noch etwas mehr Druck, und die Gemeinde jagt das komplette Viertel mit einem Schlag in die Luft. 1963 wurden Pläne gemacht, die Gaslaternen durch elektrische Lampen zu ersetzen. Und es war beinahe so, als wären diese Pläne ein Zeichen: Keine Gefahr, wir können endlich aufatmen, unser Viertel wird nicht abgerissen.
    Warum wurde das Viertel in den Fünfzigerjahren nicht dem Erdboden gleichgemacht? Wartete die Gemeinde auf den Atomkrieg, der die Gegend schneller und sehr viel kostengünstiger niederreißen würde, als sie selbst es jemals bewerkstelligen könnte? Wir in unseren für unbewohnbar erklärten Häusern hatten jedenfalls nicht mehr sonderlich viel Angst vor der Atombombe. Was auch passieren würde, wir würden verschwinden. Krieg oder kein Krieg, wir waren so oder so gezeichnet. Mit dem Bleistift hatte man unsere Häuser auf der Karte bereits abgerissen. Unser Leben war nur ein Nachleben.

Die Tage
    Im Sanierungsgebiet roch der Montag nach Waschblau, einem stark riechenden Zeug, das in allen Häusern beim Spülen der weißen Wäsche verwendet wurde. Waschblau roch, wie ich später herausfand, wie Sperma, und von dem Zeitpunkt an, als mir dies bewusst wurde, blieben mir nur zwei Jahre, in denen ich den Geruch sowohl von Waschblau als auch von Sperma überhaupt noch identfizieren konnte. Wenn irgendwann einmal der Augenblick kommt, in dem meine Nase, für kurze Zeit befreit von den mit zunehmendem Alter größer werdenden Einschränkungen, den Geruch von Sperma wieder wahrnehmen kann, dann wird für mich auch der Waschtag in seiner ganzen Glorie wieder lebendig werden. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte sich im Laufe meines Lebens nichts so sehr verändert wie das Wäschewaschen. Als fünfjähriger Junge musste ich, und dies war ein Teil des Jochs, das jeder Mensch in seiner Kindheit zu tragen hatte, beim Wasserheizer unter dem Deich, im Bloemhof 1, zwei Eimer warmes Wasser holen. Um dort nicht anstehen zu müssen, trug man mir auf, schon vor sieben Uhr am Morgen hinzugehen. Weil ich nur einen Eimer tragen konnte, musste ich zweimal hin- und hergehen. Zum Glück war der Weg nicht lang. Allerdings kostete ein Eimer bei Wasserheizer Pieterse zwei Cent, während einer seiner Konkurrenten, der sein Bruchholz über eine angeheiratete Cousine der Kistenfabrik De Neef & Co. bezog, zwei Eimer für drei Cent verkaufte. Holte man aber das billigere Wasser, dann war es, wenn man zu Hause ankam, schon für einen Cent abgekühlt. Ob es wohl irgendwo auf der Welt noch so eine Wasserheizerei gibt, komplett vollgestapelt mit Waschmitteln und ausgerüstet mit einem riesigen, zentral stehenden zylinderförmigen Kessel? Wie gern würde ich dort warten, zwischen Hausfrauen in langärmeligen Kitteln, die am
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