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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich
Autoren: Maarten 't Hart
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zweiten Tag der Woche so viel zu tun, dass gelegentlich ein Mieter nicht korrekt beliefert wurde. Vollkommen nervös stand meine Mutter jeden Montagmorgen um acht an der Haustür und wartete auf ihre Waschmaschine, die in der Regel erst zwischen halb neun und neun gebracht wurde, »weil wir nicht überall zur gleichen Zeit sein können«. Manchmal kam es vor, dass die Kohlenträger meine Mutter einfach vergaßen, ein Versehen, das unter dem Deich, wo fast niemand ein Telefon hatte, nicht leicht korrigiert werden konnte. Kam die Maschine nicht, schien das Ende der Welt nahe.
    Um ein für alle Mal diesem bitteren Leiden ein Ende zu machen, entschlossen sich meine Eltern zu einem revolutionären Schritt. Nach jahrelangem Sparen kauften sie eine eigene Waschmaschine. Dabei handelte es sich um einen einfachen Bottich auf schräg ausgestellten Holzbeinen, der mit eisernen Reifen versehen war, die die Dauben des Bottichs an Ort und Stelle hielten. Zwischen den Beinen hing der graue Motor, der über einen Treibriemen die runde Schaufel im Inneren drehte.
    Das Erstaunliche war, dass die gesamte unter dem Deich lebende waschende Bevölkerung von einem Tag auf den anderen beschloss, selbst eine Maschine zu erwerben, fast immer auf Raten übrigens. Was zuvor noch ein blühender Wirtschaftszweig gewesen war, verkümmerte über Nacht zu einem erbarmungswürdigen Anachronismus. Als alle selbst eine Maschine im Haus hatten, bot van Heyst seine Mietmaschinen zum Kauf an. Niemand war interessiert. Wenn man beim Kohlenhändler vorbeiging, konnte man die weißen Waschmaschinen totenstill in Reih und Glied in seinem Schuppen stehen sehen. Ein kleiner Lieferwagen reichte aus, um am Montagmorgen die Nachfrage nach Mietmaschinen zu befriedigen. Und noch heute, gut fünfunddreißig Jahre später, mieten drei alte Damen, die inzwischen über dem Deich leben, drei weiße Maschinen, die von einem schon längst pensionierten Kohlenträger schwarz ins Haus geliefert werden.
    Nachdem die Waschmaschinen einmal Einzug gehalten hatten, zeigte sich, wie gründlich das Leben sich verändert hatte. Dass sich die Waschmaschinen auch zu verändern begannen, erschien weniger tief greifende Folgen zu haben. Der Wringer wurde zur Schleuder, die Schaufel unten im Bottich wurde zu einer sich drehenden Trommel. Merkwürdigerweise verschwanden – in weiser Voraussicht? – die Wasserheizereien, lange bevor es Waschmaschinen gab. Manche der Läden wurden zu Waschsalons umgebaut, andere wurden abgerissen. Wer würde nicht gern noch einmal einen solchen Heizkessel öffnen, um zu sehen, wie die flackernden Flammen die Waschmittelregale beleuchten und die Schatten darüber hinweghuschen?
    Waschtag bedeutete auch, dass die Mütter unter dem Deich keine Zeit hatten, ein anständiges Mittagessen zu kochen. Am Montag aßen alle Familien unter dem Deich Brotsuppe. Als Grund für dieses Menü wurde bei uns jedes Mal angeführt, es sei noch »altes Brot« übrig, eine Situation, die sich zu meiner großen Verwunderung allwöchentlich wiederholte. Mir schien, es wäre doch kein Problem, am Samstag ein halbes Weißbrot weniger zu kaufen. Aber wenn ich darauf drängte, hieß es immer nur, »besser zu viel als zu wenig«. Man stelle sich nur vor, am Sonntag nach dem Gottesdienst wäre der Brotkasten leer gewesen! Darum gab es am Montag also Brotsuppe, ein Gericht, für das Weißbrotstücke in Milch gekocht wurden. Schon beim Anblick der durch die dicke Milchhaut ragenden Brotkrusten musste ich würgen. Mein Vater tat immer so, als könne man ihm keine größere Köstlichkeit servieren. Mit einer Gabel hob er die Haut von der Suppe, nahm sie, sichtlich genießend, mit den Lippen von der Gabel und sog sie dann langsam in den Mund, wobei die Haut oft zwischen Gabel und Mund hin und her flatterte. Sie sah dann fast aus wie ein Laken, das zum Trocknen hing. Nicht einmal meine enorme Hunger-Winter-Essenslust kam gegen eine derart absichtsvoll zur Schau gestellte barbarische Essgewohnheit an. Von Übelkeit erfüllt, machte ich mich ans Mittagessen, in dessen Anschluss der Waschtag in seine zweite Phase ging. In der Erinnerung kommt es mir vor, als habe es am Montagnachmittag immer geregnet. Nur ganz selten konnten wir die Wäsche zum Trocknen draußen aufhängen. Meistens musste sie, geschickt verteilt, auf Wäscheständern, Stuhllehnen und provisorisch gespannten Leinen trocknen, weshalb wir, wenn wir um vier aus der Schule kamen, eine Stube vorfanden, in der die Nebelwolken
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