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Unsichtbare Spuren

Unsichtbare Spuren

Titel: Unsichtbare Spuren
Autoren: Andreas Franz
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häufigste Antwort ist wohl Hass. Purer, blanker Hass. Bei mir ist es nicht anders. Ich hasse, seit ich denken kann. Aber ist Hass nicht sowieso die treibende Kraft hinter den meisten Morden? Manchmal ist der Hass gegen andere gerichtet, manchmal gegen sich selbst, manchmal ist es eine Kombination aus beidem. Bei mir ist es die Kombination. «
    » Kein Mensch hasst, seit er denken kann, das nehme ich Ihnen nicht ab «, warf Santos ein.
    » Dann eben nicht. Aber ich möchte euch eine Geschichte erzählen, meine Geschichte «, sagte Butcher, zog sich einen Stuhl, der neben der Tür stand, heran und setzte sich ebenfalls .
    » Ich wurde am 24. Oktober 1969 in Marburg geboren. Mein Vater war in der Forschungsabteilung eines großen Pharmakonzerns und hat sehr gutes Geld verdient. Meine Mutter stammt aus gutbürgerlichen Verhältnissen und hat meinen Vater, solange ich zurückdenken kann, immer unterdrückt. Sie hatte die Hosen an, wie man so schön sagt. In ihren Augen war er ein Versager. Nun, sie hat meinen Vater ins Grab gebracht, da war ich gerade mal neun. Er war Alkoholiker und starb an Leberzirrhose. Sein Ende war qualvoll, er hat nur noch Blut gespuckt, so viel Blut, dass er schließlich daran erstickt ist. Er hat geschrien, wie ich noch nie zuvor jemanden habe schreien hören. Sei ’ s drum, ich habe jedenfalls an seinem Bett gesessen, als er starb, und habe seine Hand gehalten, bis sie kalt wurde. Meine Mutter hat währenddessen in ihrem Bett im Zimmer nebenan gelegen und geschlafen. Sie hat nie ihren Rhythmus aufgegeben, bis heute nicht. Das war vor fünfundzwanzig Jahren. Mein Vater war ein guter Mensch, aber sie hat ihn kaputtgemacht. Nichts konnte er ihr recht machen, bis er irgendwann zur Flasche griff und so viel soff, bis seine Leber aufgegeben hat. Das ist meine Mutter, wie sie leibt und lebt. Fragen dazu? «
    » Wo ist Ihre Mutter heute? «
    » Bei mir zu Hause, wo sonst?! Sie ist immer da, wo ich bin. Sie muss schließlich wissen, ob ich auch alles richtig mache. «
    » Dann ist also das Gedicht, das Sie mir heute zukommen ließen, auf Ihre Mutter gemünzt … «
    » Bravo, sehr gut erkannt. Andererseits, so schwer war das nun auch wieder nicht. Und jetzt werdet ihr euch fragen, ob ich meine Mutter hasse. Ja, das tue ich. Und zwar aus tiefstem Herzen und mit tiefster Inbrunst. Und ihr werdet euch fragen, warum ich sie bis jetzt nicht abgemurkst habe. Ganz ehrlich, diese Frage habe ich mir auch oft genug gestellt und bin zu keiner Antwort gelangt. Mag sein, weil ich Angst vor ihr habe, sie schafft es nämlich noch heute, dass ich Angst vor ihr habe. Wenn sie vor mir steht, bin ich wie gelähmt. Dabei wäre es für mich ein Leichtes, sie umzubringen, doch ich schaffe es nicht «, sagte Butcher mit leerem Blick. » Aber das Beste kommt noch. Sie hat mich so erzogen, dass ich keine Freunde hatte. Sie hat es nicht zugelassen, es gab einfach niemanden, der gut genug für mich war. Dafür durfte ich schon mit vier Jahren Klavierunterricht nehmen, und sie hat mir Geschichten von Tolstoi und Goethe vorgelesen. Mit zehn oder zwölf hatte ich selbst mehr gelesen als die meisten Menschen in diesem Land. Sie hat mich jeden Tag in die Schule gebracht und wieder abgeholt, ich hätte ja auf dumme Ideen kommen können. Und wenn ich einmal unartig war, was schon bedeuten konnte, dass ich ein Wort bei den Hausaufgaben falsch geschrieben habe oder mit einer schlechteren Note als einer Zwei nach Hause kam, hat sie mir entweder drei Tage lang nichts zu essen gegeben, oder sie hat mich eine Stunde lang unter die kalte Dusche gestellt. Wenn ich ein böses Wort gesagt habe, hat sie mir den Mund mit Seife ausgewaschen, so lange, bis ich gekotzt habe, und wenn das passiert ist, hat sie mein Gesicht hineingetunkt und ganz ruhig gesagt, so was machen wohlerzogene Jungs nicht. Ich musste die ganze Sauerei dann jedes Mal wegmachen. Sie hatte für alles Strafen, und ich hatte keine Chance, mich gegen sie zu wehren. Mein Vater hatte es da besser, er durfte rechtzeitig gehen, auch wenn es ein grausamer Abschied war … Sie hat mich gewaschen und gebadet, bis ich sechzehn war, genauso lange hat sie mich auch angezogen. Jeans waren für mich natürlich tabu, ich trug immer einen Anzug und ein weißes Hemd, und meine Schuhe waren stets blank poliert. Und ich war immer allein. Kein Wunder, wer wollte schon etwas mit einem Streber zu tun haben, der nicht mit Fußball spielte, obwohl er es gerne getan hätte. Aber Mutter sagte, ich würde
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