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Unsere Oma

Unsere Oma

Titel: Unsere Oma
Autoren: Ilse Kleberger
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Amerika«, sagte Jan wichtig.
    Frieder tippte sich mit dem Finger an die Stirn.
    Jetzt wurde Jan wütend. »Jawohl«, schrie er, »morgen, am Sonntag, reiße ich aus. Ich fahr’ nach Hamburg, geh’ als Schiffsjunge auf ein Schiff und fahre nach Amerika. Dort werde ich Cowboy!«
    »Wenn du so laut brüllst, wird gleich deine ganze Familie angerannt kommen, um dir auf Wiedersehen zu sagen«, entgegnete Frieder.
    Jan biß sich erschrocken auf die Lippen und schielte nach dem offenen Fenster von Omas Zimmer hin. Aber dort regte sich nichts.
    Am Abend packte er seine Leinwandtasche, die er für Schulwanderungen bekommen hatte, schüttelte vier Mark und fünfzig Pfennig aus seinem Sparschwein heraus und steckte sie in sein rotes Geldtäschchen. Früh am Sonntagmorgen zog er sich flink an, nahm seine Sachen und schlüpfte aus dem Haus. Erst als er in der Kleinbahn saß, atmete er auf. Das Abteil war leer. Er setzte sich auf einen Fensterplatz und blickte in die Landschaft hinaus. Als die Dächer des Dorfes verschwanden, war ihm doch recht bang zumute. Nun, er würde zurückkehren, später, wenn er in Amerika reich oder berühmt geworden war, vielleicht auch beides. Dann würde er Mutter ein neues Kleid mitbringen und Vater eine Uhr und Oma...
    »Guten Morgen!« sagte Oma freundlich und setzte sich ihm gegenüber.
    Jan blinzelte, aber er sah richtig. Da saß Oma in ihrem schwarzen Kleid mit dem lila Strohhut auf dem Kopf, in der rechten Hand den Vogelbauer mit Paulchen, der munter schwatzte, in der linken Hand Handtasche und Regenschirm.

    »Ach, sei so freundlich und stell meinen Koffer ins Netz!« Oma zeigte mit ihrem Schirm auf ein braunes Köfferchen, das im Gang stand. Verwirrt erfüllte Jan ihren Wunsch.
    Oma stellte Paulchen neben sich auf die Bank, öffnete ihre Handtasche und kramte eine Rolle saure Drops heraus. »Magst du einen? Wenn ich reise, muß ich immer Bonbons lutschen.«
    »Wo fährst du denn hin?« stotterte Jan, während er sich einen Zitronendrops in den Mund steckte. Oma suchte umständlich nach einem Himbeerbonbon und antwortete: »Nach Amerika.«
    »Nach Amerika?« Jan schnappte nach Luft. »Du willst nach Amerika?«
    »Ja, warum nicht?« Oma lutschte eine Weile hingegeben. »Ich wollte schon immer gern nach Amerika. Schon als kleines Mädchen wollte ich einmal ausreißen, aber da bekam ich die Windpocken, und auch später kam immer etwas dazwischen. Zuerst hatte ich Tanzstunde, und dann habe ich geheiratet, und dann wurden die Kinder geboren, und dann wurdet ihr geboren, und ich mußte euch das Laufen beibringen und Anstandsunterricht geben und bei Masern Streuselkuchen backen und vorlesen. Aber nun habt ihr ja alle die Masern gehabt, das Baby wird sie erst in fünf Jahren kriegen, und der Anstandsunterricht nützt bei euch sowieso nicht viel. Als ich gestern hörte, daß du nach Amerika fahren willst, beschloß ich mitzufahren.«
    Jan starrte verwirrt aus dem Fenster. Oma wollte mit, Oma mit ihrem komischen lila Hut, dem falschen Zopf und Paulchen im Käfig?
    »Oder ist es dir nicht recht?« fragte Oma besorgt.
    »Doch, doch«, antwortete Jan hastig.
    »Na, dann ist ja alles in Ordnung.« Oma holte ihr Strickzeug hervor und ließ die Nadeln klappern. Eine Weile schwiegen sie. Jan wußte nicht recht, ob er sich ärgern oder freuen sollte.
    »Hast du viel Geld?« fragte er.
    »Neun Mark, und du?« Oma betrachtete ihn neugierig über ihre Brille hinweg.
    Jan rechnete. »Eine Mark hat die Fahrkarte gekostet, also hab’ ich noch drei Mark fünfzig.«
    »Nicht sehr viel, aber es wird schon reichen«, meinte Oma.
    »Wie willst du denn nach Amerika kommen?« fragte Jan zaghaft.
    »Genau wie du«, antwortete Oma.
    »Aber du kannst doch nicht Schiffsjunge werden!«
    »Das nicht, obgleich ich vielleicht besser klettern kann als mancher von euch jungem Gemüse. Aber wenn ich so viel im kalten Wind sein muß, bekomme ich Rheumatismus. Ich werde in der Küche helfen und mir so die Überfahrt verdienen.«
    »Und was willst du drüben in Amerika machen?«
    »Vielleicht kann ich als Köchin auf der Farm arbeiten, auf der du Cowboy bist.«
    »Dann könntest du mir ab und zu Makkaroniauflauf machen.«
    »Natürlich!«
    Jan begann sich für den Gedanken zu erwärmen, mit Oma zusammen nach Amerika zu reisen.
    »Eberbach — Endstation!« rief der Schaffner. Oma sprang auf und ergriff ihre Handtasche, den Regenschirm und Paulchens Käfig.
    »Mein Köfferchen trägst du vielleicht.«
    Jan hob den Koffer aus dem Netz
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