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Unsere Oma

Unsere Oma

Titel: Unsere Oma
Autoren: Ilse Kleberger
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seinen sanften braunen Augen angstvoll an. Sie betrachteten es schweigend und mit tiefem Mitleid. Plötzlich richtete es sich auf, schob die Decke fort und kam auf allen vieren unsicher und taumelnd auf Ingeborg zu. Es richtete sich an ihren Beinen hoch und umklammerte sie. Ingeborg beugte sich zu ihm hinunter und hob es hoch. Mit einer innigen Bewegung schlang es die Arme um ihren Hals und drückte sein Köpfchen an ihre Schulter.
    »Geben Sie mir die Milch«, sagte Ingeborg zu dem Wärter. Er reichte ihr die Flasche. Sie drückte sanft den haarigen Kopf von ihrer Schulter, nahm das Tierchen wie ein Kind in den Arm und bot ihm die Milch an. »Trink!« sagte sie liebevoll.
    Die langen Lippen umfaßten den Gummischnuller, und das Äffchen saugte, ohne den Blick von Ingeborgs Gesicht zu lassen. Wenn es aufhörte, sagte sie wieder: »Trink!« Und jedesmal fing es wieder gehorsam an zu saugen. Nachdem es die Flasche leergetrunken hatte, fielen ihm die Augen zu, und es schlief ein. Ingeborg legte es auf das Strohlager und deckte es mit der Decke zu, aber gleich öffnete es wieder die Augen und fing so kläglich an zu schreien, daß sie es wieder auf den Arm nehmen mußte. Der Onkel wollte es ihr abnehmen, aber es klammerte sich fest an ihren Hals.
    »Du mußt es mit nach Hause nehmen«, sagte Oma.
    Dicht an Ingeborg geschmiegt, ließ es sich willig ins Haus tragen, doch sobald ein anderer es anrührte, fing es an zu schreien.
    »Vielleicht siehst du seiner Mutter ähnlich«, meinte Brigitte. Als Ingeborg es auf ein Sofa in ihrem Zimmer legte, stimmte es wieder ein klägliches Geschrei an. Da packte sie es schließlich in eine Decke und nahm es zu sich ins Bett. Dort schlief es bald ruhig, das Köpfchen an ihre Schulter gepreßt.
    Aber noch waren die Sorgen nicht zu Ende. Zwar nahm das Äffchen am nächsten Tag von Ingeborg seine Flasche, aber es hatte Fieber und hustete. Ein Arzt wurde geholt, ein Menschenarzt, kein Tierarzt. »Die Schimpansen sind den Menschen ähnlicher als den Tieren«, sagte der Onkel.
    Das Äffchen ließ sich brav untersuchen, während es Ingeborgs Hand fest umklammert hielt. Der Arzt horchte es ab, guckte ihm in den Hals und in die Ohren, dann sagte er ernst: »Lungenentzündung!«
    Er verschrieb eine Medizin und ordnete an, das Tierchen sehr warm zu halten. Einer der Zoowärter brachte ein Kinderbett, aus dem sein Jüngster herausgewachsen war. Es wurde in Ingeborgs Zimmer gestellt und das Äffchen hineingelegt. An die Füße bekam es eine Wärmflasche. Es nahm auch von Ingeborg die Medizin. Omas berühmten Hustensaft aus Zwiebeln und Kandiszucker wollte es wieder ausspucken, aber auf Omas Rat steckte Ingeborg ihm schnell ein Stück Kandiszucker in den Mund, und das schmeckte ihm so gut, daß es auch den Saft hinunterschluckte.

    Trotz aller Pflege ging es dem Äffchen am Nachmittag sehr schlecht. Es keuchte vor Atemnot, und die Augen waren matt und trübe. Ingeborg mußte immer an seinem Bett sitzen. Sobald sie fortgehen wollte, fing es jämmerlich an zu weinen.
    Alle im Haus gingen auf Zehenspitzen. Der Onkel zupfte nervös an seinem Bart und blickte finster vor sich hin. Oma kochte, um sich zu beruhigen, Unmengen Hustensaft, die für die ganze Familie ausgereicht hätten. Das Haus roch vom Keller bis zum Dach nach Zwiebeln und Kandiszucker.
    Das Abendessen, bei dem Ingeborg fehlte, wollte niemandem schmecken. Plötzlich brach Brigitte in lautes Schluchzen aus.
    »Hör auf zu weinen«, sagte Oma.
    »Laß doch das Kind weinen!« fuhr der Onkel sie an. »Es wird sich dadurch erleichtern.« Er putzte sich geräuschvoll die Nase und verschwand in seinem Zimmer.
    Nun kullerten auch Peter und Jan die Tränen übers Gesicht.
    »Hört auf«, sagte Oma energisch. »Weinen nützt überhaupt nichts. Tut lieber etwas Vernünftiges. Brigitte, du füllst die Wärmflasche neu, Jan füttert die Tiere im Haus und Peter hilft ihm dabei. Mit euren Tränen helft ihr dem Äffchen bestimmt nicht!«
    Ingeborg blieb die ganze Nacht am Bett des kleinen Schimpansen. Sie hielt die Hand des Tierchens, füllte von Zeit zu Zeit seine Wärmflasche, gab ihm seine Medizin und trug es manchmal auf dem Arm herum, wenn der Husten es zu sehr quälte. Am Morgen wurde es ruhiger. Es hustete weniger, die Hände fühlten sich kühler an, und gegen sieben Uhr fiel es endlich in Schlaf. Es hielt noch immer Ingeborgs Hand, und sie wagte sich nicht fortzurühren. Um halb acht kam der Onkel herein. Ingeborg sah ihn an. Sie war blaß, aber
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