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Unser Verhältnis verhält sich verhalten (German Edition)

Unser Verhältnis verhält sich verhalten (German Edition)

Titel: Unser Verhältnis verhält sich verhalten (German Edition)
Autoren: Bente Varlemann
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sie mal nicht da war.
    Im Sommer vermischte sich dieser Geruch mit Meersalz. Ich erinnere mich daran, dass meine Familie in den Dänemark-Urlaub fuhr. Einmal wohnten wir in einem Pfahlhaus direkt am Meer. Das Wetter war stürmisch, und plötzlich stand unser Haus mitten in den Fluten. Wir waren für einen Tag abgeschlossen vom Festland, wir saßen fest wie auf einer Insel, ich las
Dagobert-Duck
-Comics und konnte nachts nicht schlafen, weil mich die Panzerknacker in Albträumen verfolgten. Morgens versuchte mein Vater die Stimmung aufzuhellen, indem er auf dem Saitenkäseschneider improvisierte Lieder über unsere «Insel» zum Besten gab.
    An so vieles andere kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich muss an die vielen Menschen denken, die ich schon kennenlernte, und dass ich dauernd immer wieder irgendwen kennenlerne, und dass ich eigentlich lernen will,
mich
zu kennen, aber nicht weiß, wie ich das anstellen soll. Obwohl, vielleicht ist es am besten, einfach halbwegs chronologisch vorzugehen und dann zu sehen, wie ich geworden bin und weshalb das so ist. Ich denke an den ersten Urlaub ohne meine Eltern.
    Und erinnere mich, wie mein Onkel und meine Tante an meinem sechsten Geburtstag meine Schwester und mich mitnahmen zu ihnen nach Hause, in die Ferien, und wir fuhren los gen Süden. Damals war Süden für mich Hessen. Meine Schwester war vier, und sie weinte ein bisschen.
    Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, etwas zurückzulassen, nämlich meine Eltern und ihre Liebe und den kleinen Hund und mein Zimmer. Doch je weiter wir fuhren, desto kleiner wurde dieses Gefühl, desto wunderbar abenteuerlicher wurde die Fahrt. Ein Abschied ist nie schön. Doch wir aßen Campino-Bonbons auf der Rückbank, und das bittere Gefühl des Verlassens löste sich zeitgleich mit dem Zucker der Drops einfach in Süße auf.
    Ich erinnere mich an meinen Opa, der immer Eukalyptusbonbons in seinen Taschen hatte und in seiner Werkstatt oft etwas für uns baute, die Tür aber so lange geschlossen hielt, bis es fertig war. Meine Schwester und ich klopften dann an die Tür, mein Opa öffnete und fragte jedes Mal, was wir denn wollten. Meine Schwester und ich antworteten dann im Chor: «Wir sind zwei arme Kinder. Wir haben nichts zu essen.» Mein Opa lachte daraufhin und drückte uns weiße Plastik-Unterlegscheiben für Schrauben in die Hand und sagte, jetzt könnten wir uns etwas zu essen kaufen.
    Als ich vom Müllrunterbringen wieder zurück in der WG bin, gehe ich in mein Zimmer, schaue ins Regal und durchsuche meine unordentlichen Kisten nach Erinnerungen. Ich will mich erinnern an all das, was ich schon so lange vergessen habe. Ich will lernen, mich zu kennen. Ich will mich kennenlernen.
    Ich finde ein Foto von meinem Hund und denke daran, wie ich für eine Englischarbeit lernen musste, aber mich nicht konzentrieren konnte und meine Mutter mir riet, ich solle dem Hund die Vokabeln erzählen. Nach einem Lernnachmittag im Hundekörbchen hatte ich nicht nur das Gefühl, dass ich einiges gelernt hatte, ich war auch der festen Überzeugung, der Hund hätte etwas für seine Allgemeinbildung getan.
    Ich erinnere mich an meinen Vater, der an meinem zwölften Geburtstag mit Brötchen zum Frühstück erschien. In der Zeit brachte er immer Brötchen mit, wenn er von seiner neuen Freundin kam. Seit diesem Zeitpunkt habe ich eine Abneigung gegenüber Brötchen. Ich kann sie nicht leiden, sie sind so klein. Viel zu klein, man braucht so viele, um richtig satt zu werden. Ich brauche so unendlich viel um mich herum, um satt zu werden. Mein Vater benutzte Brötchen, um Hunger zu stillen, den auch eine ganze verdammte Bäckerei nicht hätte bewältigen können. Denn dabei ging es um etwas ganz anderes als Essen.
    Ich finde eine Kassette und stecke sie ins Tapedeck. Ein Mixtape, aufgenommen mit fünfzehn und einer Freundin. Wir singen «I am Sailing», verkünden, dass wir Sekt und Bier dazu trinken, brüllen herum, versuchen uns in Moderation und lachen darüber, und die Welt lässt sich für sechzig Minuten zurückdrehen. Ich höre die Kassette und überspule die peinlichen Stellen.
    Ich bastel meine Gedanken zueinander, setze die Stücke zusammen, die mich ausmachen, alles eine große Collage, frage mich, ob das was wird, und entscheide mich dann doch für nichts. Taste mich an mich selber heran. Ich weiß nicht, warum, ich weiß nur, dass mich das mitnimmt.
    Ich finde Postkarten von meinem Vater, auf denen er schreibt, ich solle so fröhlich bleiben, wie
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