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Unser Verhältnis verhält sich verhalten (German Edition)

Unser Verhältnis verhält sich verhalten (German Edition)

Titel: Unser Verhältnis verhält sich verhalten (German Edition)
Autoren: Bente Varlemann
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Hamburg einsam fühle, dann gehe ich ans Wohnzimmerfenster und sehe hinaus.
    Ich stelle mir die Stadt manchmal als Schriftstück vor, und wenn sich nur einmal die richtigen Parolen finden und verarbeiten lassen würden, dann könnte alles auseinanderfallen. Ich würde einen neuen Rhythmus entwerfen, Zeichen und Zeiten würden sich verändern und die Ansichten der Menschen gleich mit, ich würde alles mit einer Schreibmaschine bearbeiten, keine dummen Ansagen mehr in diesem Stadtplan, den ich wie viele andere unterschrieben habe, aber nicht gutheißen kann. Alles soll unbeengt und bequem sein, so wie ein überdimensionaler Jogginganzug vielleicht. Der Stoff der Stadt braucht mehr Knicke, mehr Eselsohren und soll sich ein bisschen weniger aufplustern, der Stoff in der Stadt würde dann zur Nebensächlichkeit degradiert werden, sodass Koks nicht wie ein Ersatzknopf in jeder guten Anzugjacke zu finden ist. Es geht nie darum, etwas Erfundenes zu erleben. Aber man kann es beschönigen, weiter auskosten, sich einfach nehmen, was zu nehmen da ist.
    Als ich noch ein Kind war, bestanden die Wiesen aus Weizen, goldene Felder, wer hätte da behaupten können, ich wäre auf dem Land unglücklich gewesen. Die Wälder waren grüne Pompons, das Laub der Bäume klatschte Beifall, wenn ich durch den Sturm lief. Wurde es Herbst, trommelte der Regen Lieder gegen die Fensterscheiben meines Zimmers. Manchmal sang ich dazu. Aber nur leise und heimlich, denn ich befürchtete, das Unwetter-Orchester draußen zu stören. Ich stellte mir alles hinter der Fensterscheibe als Zirkus oder Jahrmarkt vor. Die Farben, die je nach Jahreszeit wechselten, die Menschen, die ihr Aussehen ebenfalls wechselten, manche gingen fort in eine Stadt und kamen wieder. Ich ging auch irgendwann fort und kam nicht wieder und erfuhr nur aus der Zeitung, was aus ihnen geworden war. Die Dortgebliebenen heirateten, oder sie beendeten ihre Ausbildung zum Metzgereifachverkäufer, oder sie starben betrunken und eingeklemmt in ihren Autos, die man ihnen zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Waren sie etwas älter, dann erfuhr man, dass sie in Rente gingen, fünfundzwanzig Jahre verheiratet oder auch gestorben waren, nur die Gründe dafür änderten sich. Wobei es ja auch egal sein kann, woran jemand stirbt, wenn jemand tot ist, dann ist er nicht mehr da. Da helfen auch keine Gründe.
    Meine Mutter war immer stolz darauf gewesen, dass ich so phantasiereich dachte, meine Lehrer und jetzt die Professoren an der Uni hatten es nie verstanden. Ich solle sachlicher denken, die Welt bestünde nicht aus goldenen Feldern oder aus baumwollunterhosenen Vorstadtsiedlungen. Die Welt sei, wie die Welt sei, und ich hätte mich anzupassen.
    Manchmal, wenn ich mich – wie jetzt – einsam fühle, denke ich, dass ich in die falsche Geschichte geschrieben wurde.
    Manchmal, da mag ich nicht auswählen zwischen all den Möglichkeiten und schiebe vieles vor mir her, ohne zu bemerken, dass nicht nur Entscheidungen, sondern auch Stillhalten Konsequenzen mit sich bringen. Ich stecke dann fest in einem Zwischenraum aus Anpassung und scheinbarem Individualismus, denn ich kann mich nicht neu erfinden. Aber ich kann mich entwickeln. Nur manchmal fällt mir das Wohin schwer. Dann weiß ich nicht, was ich mit mir anfangen soll, und empfinde diese Stadt als ein Korsett aus Beton, Stahl und Szenevierteln. Ich langweile mich, und diese Langweile geht immer größer in mir auf.
    Meine Tage blättern sich an und aus. Benutzen ständig die Wörter und Phrasen von gestern. Von den Tagen davor und davor, und ich frage mich, ob nicht bald mal die nächste Saison etwas bereithält, das neu ist. Da lebe ich in einer Trendstadt, die bunt und grell und ständig im Wechsel ist und habe so oft das Gefühl, alles dreht sich, weiter und weiter. Nur ich nicht.
    Jetzt sitze ich hier, und ich bin es leid. Ich entscheide, dass sich jetzt etwas verändert, weil ich jetzt etwas verändere. In Gedanken reiße ich das Stadtkorsett auf, atme tief durch, nehme meine Jacke. Und verlasse die Wohnung.
    Es ist bereits dunkel, der Winterwind zerrt wie ein kleines Kind an meinem Körper, so als wolle er jeden Zentimeter Haut heraustrennen und mit sich forttragen. Es würde mir gefallen, in Einzelteilen über den dreckigen Beton zu schweben, den Dreck aufzuwirbeln, um ihn dann später unter den Fingernägeln wiederzufinden. Doch die Atome, aus denen ich bestehe, halten zusammen, und ein Fortkommen können nur die Beine oder
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