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Unser Mann in London

Unser Mann in London

Titel: Unser Mann in London
Autoren: Moritz Volz
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Dessert nahm sich Steve fast jedes Mal vor: «Nein, also wirklich, jetzt mache ich eine Diät. Wirklich – okay, nach dem Nachtisch.»
    Er fuhr mit mir ins Kino. Ich wählte einen Film namens
Lake Placid
aus. Es ging um ein fünf Meter großes Krokodil, das Menschen fraß. Ich dachte nicht, dass mich der Film interessieren würde. Ich glaubte, es sei der einzige, den ich mit meinem Englisch vielleicht verstehen könnte. Als Steve, ohne mit der Wimper zu zucken, mit mir in den Film ging, wusste ich, was für ein gütiger Mensch er war.
    Danach setzten wir uns in eine Pizzeria in dem Einkaufszentrum am North Circular. Er erinnere sich noch an das phantastische Steak meines Vaters, sagte Steve, und an die eindringlichen Worte meiner Oma Gerda! «Schau, Moritz, ich mache mir Sorgen. Ich habe nicht unbedingt das Gefühl, dass du vollends ins Team integriert bist.»
    So konnte man es auch sagen.
    Auch Steve Rowley konnte nichts anderes als das Offensichtliche sagen: dass ich aus mir rausgehen müsse, im Training alles zeigen, was ich könne, mit dem Fußball reden, wenn mir die Worte fehlten, dann würde ich schon Stück für Stück akzeptiert. Es kam gar nicht so sehr darauf an, was er sagte. Es war das Gefühl, von einem liebevollen Menschen verstanden zu werden, das mir half.
    «Nachtisch?», fragte die Bedienung.
    «Nein, nicht für mich», sagte Steve geradezu entrüstet. Ich bestellte, und er fuhr hoch: «Wenn du was nimmst, muss ich ja auch etwas nehmen. Einen Käsekuchen, bitte.»
    Fortan trafen wir uns immer mit dem Ritual von Geheimagenten. Er wartete beim Haus der Flints hinter der Ecke, «Bin jetzt da», und ich ging dann offiziell eine Runde spazieren. Wir fuhren in Restaurants, ins Kino oder gemeinsam shoppen.
    Einmal blieb mein Blick an einer Lederjacke hängen.
    «Kauf sie dir, sie steht dir wunderbar», ermunterte mich Steve.
    Kam gar nicht in Frage. Sie kostete über 900 Pfund. Ich hatte noch nie mehr als 100 D-Mark für ein Kleidungsstück ausgegeben.
    «Aber du verdienst doch jetzt ordentliches Geld, komm, zier dich nicht.»
    Ich verdiente die für Fußball-Azubis in England üblichen 320 Pfund die Woche, rund 1600 Euro im Monat.
    «Aber wenn du 17 bist, tritt doch dein Profivertrag in Kraft. Ich strecke dir das Geld vor.»
    Ich weigerte mich, die Jacke zu kaufen.
    «Hey, du Geizkragen.»
    «Das gebe ich nicht aus, Steve, so viel Geld für eine Jacke.»
    «Nun hör schon auf. Ich wette, bei dir kommen Motten heraus, wenn du mal dein Portemonnaie aufmachst.» Nur weil mich die Späße der Jungs bei Arsenal quälten, war das für Steve noch lange kein Grund, schonend mit mir umzugehen; im Gegenteil: Dann war es Zeit, dass ich endlich Spaß verstand.
     
    Es erging mir bei Arsenal in den folgenden Wochen nicht unbedingt besser, aber mit Steve im Rücken waren die Anpassungsschwierigkeiten leichter zu ertragen. Ich sah die Situation aus der Sicht der Arsenal-Jungs, und mir wurde klar, dass sie auch Gründe hatten, mich und die anderen paar Ausländer misstrauisch zu beäugen.
    Jérémie Aliadière, ein französischer Junge mit ständig wechselnden Frisuren, und ich übten oft nach dem Training noch für uns. Wir waren durchdrungen vom Ehrgeiz, besser zu werden. Nur mit hochheiligem Ernst im Training kam man weiter, so waren wir erzogen worden.
    «Schaffe, schaffe, schaffe», schrien die Jungs aus dem Fenster der Umkleidekabine zu uns hinaus. In ihren als Scherzen getarnten Rufen lag Unverständnis und ein wenig Verachtung. Was sollte diese Verbissenheit, noch nach dem Training zu trainieren? Denn anders als in Frankreich oder Deutschland bemühen sich die Engländer, nicht zu vergessen, dass Fußball doch immer noch ein Spiel sei.
    Ich brauchte Jahre, bis ich diese englische Einstellung schätzen lernte. Ganz habe ich es nie geschafft, den Überernst abzuschütteln, mit dem wir in Deutschland das Spiel betreiben. Immer wenn es schlecht läuft, sagt eine Hälfte in mir, du musst noch mehr, noch vehementer arbeiten. Die andere Hälfte mahnt mich, die englische Idee von der kraftspendenden Leichtigkeit nicht zu vergessen.
    Mit 16, frisch und unschuldig in London, war ich nur verwirrt, als ich erlebte, wie es in der Umkleidekabine vor einem Spiel zuging. Ich schaute nach dem Trainer, der musste doch etwas unternehmen! Aber der Trainer ließ sich gar nicht blicken. Wo in Deutschland angespannte Ruhe und höchste Konzentration herrschten, ehe der Trainer sich dann noch einmal mit einem flammenden Appell
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