Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unser Mann in London

Unser Mann in London

Titel: Unser Mann in London
Autoren: Moritz Volz
Vom Netzwerk:
gehört einfach dazu. Es waren vielleicht zwei Zentimeter gefallen. An jeder Straßenecke schickte ich Sebastian und Ingi vor, um zu erkunden, ob wir durch die nächste Seitenstraße auch noch fahren könnten. Sie rannten zum Auto zurück, riefen beim Hineinspringen: «Geht gerade noch!» oder: «Es wird schwer, aber ich würde es riskieren!», und wir kämpften uns wieder 150 Meter voran, bis zur nächsten Straßenecke. Wie bei einer Polarexpedition. Ich hatte Sommerreifen. Winterreifen kennt man nicht in London.
    Längst hatten die paar Schneeflocken den Verkehr lahmgelegt. Flüge fielen aus, Züge blieben stecken, auf den Ringautobahnen bildeten sich Staus von Dutzenden Kilometern, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass die Londoner das Chaos genossen. Mit bebender Stimme forderten die Radiosprecher die Bewohner in der Nähe der Autobahnen auf, den Feststeckenden Decken und Tee vorbeizubringen. Etliche Autofahrer schliefen die folgende Nacht in ihrem Wagen auf der Autobahn, das waren Helden! Die Zeitungen strengten sich an, ihre Schlagzeilen vom letzten Schneefall einige Jahre zuvor zu überbieten, wobei scheinbar mit Enthusiasmus endlich wieder auf die Sprache der Kriegsberichterstattung zurückgegriffen wurde: «Erste Flocken eines arktischen Blizzards fallen auf London! Mehr Schneeflocken werden befürchtet!» – «Schulen geschlossen. Züge schlimm getroffen. Autobahnen gesperrt. Der Wind kommt aus Sibirien!»
    Der Schnee schien eine willkommene Gelegenheit, endlich einmal wieder diese großartige englische Tugend, die Beherrschtheit, feiern zu können.
You have to get on with things.
Wir machen einfach weiter, als wäre nichts.
    In einer ritualisierten zweiten Stufe schlug diese exzentrische Mischung aus Gleichmut und Begeisterung am Weltuntergang dann vorhersehbar in Entrüstung über das Versagen des eigenen Landes um. Die Stadt hat nicht genug Streusalz! Der Flughafen hat nicht genug Enteisungsmittel! Norwegen wird mit ganz anderen Schneemengen fertig, warum schaffen wir das nie?
    Jedem erschien es logisch, dass London nicht massenweise teure Schneeräumfahrzeuge anschaffen kann, nur weil es alle paar Jahre einmal schneit. Aber geschimpft wurde trotzdem. Das gehörte doch dazu.
     
    Der Sommer von 1999, mein erster Londoner Sommer, war außergewöhnlich heiß gewesen, mit Temperaturen über 30 Grad. Ich dachte kaum weiter als zum nächsten Tag: Wie würde ich das Training überstehen? Ich hatte mit der neuen Belastung zu kämpfen, verglichen mit Deutschland war das Training abrupt von zwei, drei auf sechs Einheiten pro Woche hochgeschnellt. Ich dachte oft an die alten Freunde in Bürbach, ich telefonierte beinahe täglich mit Anneke, aber ich war zu erschöpft, um wirkliches Heimweh zu spüren. Ich lebte zwischen der Küche der Flints, dem 384er-Bus nach Cockfosters und Arsenals Trainingszentrum. Als meine Eltern im Herbst zu Besuch kamen, fiel mir auf, wie wenig ich noch von der Stadt wusste, in der ich lebte. Mein Vater erzählte mir eines Mittags nach dem Training: «Heute Morgen war ich da am Fischweiher.» Ich sah ihn verständnislos an: Welcher Weiher?
    Der Teich am Greenhill Park lag 100 Meter vom Haus der Flints entfernt. Ich lebte seit gut drei Monaten dort und hatte ihn noch nicht entdeckt.
    Mein Vater und mein Bruder dagegen hatten sich schon bei ihrem ersten Besuch bestens in London vergnügt, während ich trainierte. «Jetzt komm schon», drängte Konni unseren Vater, als ich sie nachmittags wiedertraf.
    «Nein, hör auf.»
    «Du kannst es doch, jetzt führe es Moritz halt mal vor.»
    Und dann rappte mein Vater das Lied des in Bürbach weltberühmten Rappers Illmatic, das mein 14-jähriger Bruder ihm morgens beigebracht hatte: «My rapstyle techniques kill you ass in a minute.»
    In dem Moment war ich mir nicht sicher, ob es schade oder ein Glück war, dass ich nicht mehr bei ihnen lebte.

[zur Inhaltsübersicht]
Drei Das englische Lachen
    In der Umkleidekabine bemerkte ich, dass ich einen neuen Namen hatte. Ich hieß nun He-Man.
    «Na, He-Man, warst du heute im Training mal wieder richtig fleißig?»
    «Achtung, hier kommt He-Man den Flügel hinuntergejagt!» Einer der Jungs machte ein paar Schritte durch die Kabine, eckig wie ein Roboter, um mich zu imitieren.
    Die Jungs lachten, und ich versuchte zu lächeln.
    Die Comicfigur He-Man war blond, muskulös und rechtschaffen, sagte ich mir. Ein kleines bisschen Respekt könnte doch auch in meinem neuen Spitznamen stecken. Oder?
    Nachdem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher