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Unser Mann in London

Unser Mann in London

Titel: Unser Mann in London
Autoren: Moritz Volz
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Mietblocks. Das waren also Hochhäuser, hatte ich als Kind gedacht. Staunend betrachtete ich nun die Häuser in Barnet. Wie nahe sie beieinanderstanden. Dabei waren es für Londoner Verhältnisse weiträumige grüne Einfamilienhäuser. In chaotischer Ordnung reihten sich prächtige viktorianische Villen an schmucklose Sechziger-Jahre-Neubauten aus Kieselsteinpressplatten. Wie ein Mahnmal ragte der schreiend rote Briefkasten der Königlichen Post aus der Ruhe: als seien Briefe das Einzige, was Barnet mit der Stadt, mit dem, was in der Welt passierte, verband. Dabei wäre es nur eine Reise von 300 Metern gewesen, und der Trubel der Londoner Vorstadt hätte mich eingefangen, schon wäre ich am Barnet Hill auf einer dieser ewig gleichen Londoner High Streets gewesen, mit dem Pub, dem Wettbüro, dem Immobilienmakler und dem Sonnenstudio namens «Porentiefe Schönheit». Aber mich zog es kaum dorthin, als im Sommer 1999 mit 16 Jahren mein Leben als Londoner bei Familie Flint in Barnet begann. Was ich bei den Flints und im Training bei Arsenal erlebte, war so neu, so aufregend wie anstrengend für mich, dass mir das schon genug Stadtleben erschien.
     
    Familie Flint wohnte in einem dreistöckigen Eckhaus. Der plötzlich wechselnde Stein in den Hausmauern ließ erkennen, wo einmal angebaut worden war. Die weißen Gardinen an den Fenstern blieben stets zugezogen. Drinnen strich Warren Flint ständig die Wände neu, tauschte Türklinken aus oder schliff die Stühle ab. Es ging nicht darum, ob etwas kaputt war, sondern dass mein Gastvater leidenschaftlich gerne reparierte und werkelte. Soweit ich das mit meinem Englisch verstand, war er Bauleiter von Beruf. Er lachte gerne und laut. Dabei wackelte sein mächtiger Bart, und seine Frau Eileen sah ihn in stiller Skepsis an.
    Seit Jahren nahmen die Flints junge Fußballer von Arsenal auf. Die lange Erfahrung mit den Gastsöhnen hatte bereits Spuren hinterlassen. Die Keksdosen waren mit Klebezetteln markiert: «Fußballer» und «Familie Flint».
    Außer mir wohnten noch zwei irische Arsenal-Jungs im Haus. Sie hießen Graham und Steven. Die anderen Jungs nannten sie
Half Ear
und
Twig
. Halb-Ohr und Zweig. Graham fehlte die Spitze von einem Ohr. Steven war dünn wie ein Ast. Später würden Sebastian Larsson aus Schweden und Ingi Højsted von den Färöer-Inseln einziehen. Ingi hortete Walfleisch im Kühlschrank, das schwarz wie Autoreifen war und wie parfümierte Lakritze schmeckte.
    Wenn die Jungs vom Training nach Hause kamen, machten sie den Fernseher an und schauten SkySports. Der Sohn der Flints, Noel, war an der Universität. Kam er am Wochenende nach Hause, begrüßte er mich regelmäßig mit den Worten: «Ich heiße Noel und spiele Dudelsack.» Das war der eine deutsche Satz, den er beherrschte. Die Tochter Fiona schien mein «Good morning» nicht gehört zu haben, als ich sie das erste Mal grüßte. Beim zweiten Mal wusste ich es besser. Sie redete nicht mit jedem. Sie durchlebte gerade ihre Pubertät.
    Unter dem Esstisch lag Elkar, der Schäferhund der Flints. Wir Arsenal-Jungs fütterten ihn heimlich mit dem Essen, das uns nicht schmeckte. Einmal kam Warren Flint ins Esszimmer, sein Blick fiel auf Elkar, und die Freundlichkeit in Warrens Augen erlosch. Ich sah unter dem Tisch nach. Elkar hatte das gesamte Gesicht voller Erbsen und Maiskörner. Warren Flint ging aus dem Zimmer und sagte nichts.
    Ich dachte, ich müsste etwas tun, um mich zu integrieren, und bot den Flints an, den Rasen im Garten zu mähen. Hektisch lehnten sie ab. Ich setzte mich abends zum Fernsehschauen zu ihnen und betrachtete mit hochkonzentriertem Blick eine Vorabendserie, von der ich kaum ein Wort verstand. Dafür hatte ich nach wenigen Tagen etwas gelernt: Entweder Familie Flint oder die Fußballjungs schauten im Wohnzimmer fern, selten aber beide zusammen. Die Flints waren in ihrer Rolle als Gastfamilie wie die perfekten Fußballer: hochprofessionell, freundlich und immer distanziert.
    Ich ging zu den Nachbarn, um mich vorzustellen, wie ich das aus Bürbach kannte. Eine Frau öffnete die Tür. Als sie skeptisch «Ja?» fragte, wusste ich nicht mehr weiter. Ich sah eine Plastikfolie über dem Teppich im Flur – ein Thema! – und sagte: «Ah, Sie renovieren.» Die Nachbarin sah erst die Plastikfolie, dann mich erstaunt an.
    «Aber nein, das ist ein Teppichschutz, der ist immer da.»
    «Oh, super – ich meine: wirklich großartig», stammelte ich und ging.
     
    Zu meiner Überraschung fand
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