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Unser Mann in London

Unser Mann in London

Titel: Unser Mann in London
Autoren: Moritz Volz
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ich heraus, dass noch jemand im Haus wohnte. Mary, die Großmutter der Flints, kam und verschwand wie eine Fee. Sie hatte ihren eigenen Wohnbereich, den sie von innen abschloss. Ich traf sie fast immer nur morgens in der Küche, wenn ich die Treppe zum Frühstück hinunterkam.
    «Guten Morgen, ist das heute nicht ein glorreicher Tag? Keine Wolke am Himmel», begrüßte sie mich mit enthusiastischer Stimme. Im Laufe der Monate redete sie mit mir darüber, ob die Sonne heute wohl noch herauskommen würde, dass dieser Regen nicht die kleinste Absicht erkennen ließe abzunehmen, es heute eher windig war, aber sie sich noch gut erinnere, wie sie früher immer gesagt hätten, ein kleines bisschen Wind schade nie, denn er vertreibe dunkle Wolken. Jedes Mal sprach sie darüber mit einer Hingabe, die andere für Erzählungen von der Geburt ihrer Kinder reservierten. Das stetig lauter werdende Aufbrausen des kochenden Wassers im Teekessel bildete das konstante Hintergrundgeräusch für ihre ausführlichen Vorträge über das Wetter des Tages. Nie fragte sie: «Und wie geht es dir denn? Hast du schon Freunde in London gefunden?»
    Oma Mary erzählt Graham und mir beim Frühstück vom Wetter, wie man an unseren begeisterten Gesichtern erkennt.
    Natürlich ist das Wetter seit langem weltweit als Thema für all jene Gespräche etabliert, in denen man sich nichts zu sagen hat, aber höflich sein will. Doch die Ausdauer und die Detailverliebtheit, mit denen Großmutter Mary im Wetter schwelgte, ließen mich zum ersten Mal ahnen, zu welcher Kunstform es das Gespräch über das Wetter in London gebracht hat. Hinter den unendlichen Beschreibungen von Regen und Sonne verbirgt sich die herkuleshafte englische Anstrengung, bloß nicht unhöflich oder gar persönlich zu werden. Wohin das führen kann, erkannte ich, als ich einmal Arsenals Chefscout Steve Rowley mit einem exakt zur Hälfte krebsroten Gesicht begegnete.
    Steve, der einer meiner besten Freunde werden sollte, war mit einem Fußballagenten zum Mittagessen verabredet gewesen.
    «Großartig, die Sonne heute!»
    «Wunderbar, nicht wahr?»
    «Wollen wir draußen sitzen?»
    «Nun, ich hätte nichts dagegen. Was meinen Sie?»
    «Oh, wie Sie wollen», sagte Steve, obwohl er auf keinen Fall im Freien sitzen wollte. Es war viel zu warm, er würde schwitzen, vielleicht auch Kopfschmerzen kriegen.
    «Dann schlage ich vor, wir bleiben auf der Terrasse.»
    «Selbstverständlich», sagte Steve mit regungslosem Gesicht und fügte an: «Wollen Sie den Schattenplatz?»
    Die Sonne knallte Steve das gesamte Mittagessen hindurch auf seine rechte Gesichtshälfte, eine klare Linie zwischen Weiß und Rot lief am nächsten Tag von der Stirn über die Nase zum Kinn hinunter. «Verdammte Hölle, der Kerl ließ mich die ganze Zeit in der Sonne sitzen, ohne zu merken, wie ich litt!», schimpfte Steve. Vielleicht lag es daran, dass er sich nichts hatte anmerken lassen?, meinte ich zu ihm. «Bah, das muss er doch merken!»
    Wie genau sein Essenspartner Steves Verstimmung hätte bemerken sollen, ist unmöglich zu sagen. Vielleicht hatte Steve schon betont skeptisch geklungen, als er sagte: «Draußen sitzen? Oh, wie Sie wollen.» Vielleicht hatte Steve aber auch nur geglaubt, er lege einen betont argwöhnischen Ton in sein «Oh, wie Sie wollen».
    Es gibt keinen klaren Code, um die wirkliche Botschaft zwischen all den höflichen Worten der Londoner zu entschlüsseln. Meistens muss man dem Gesprächspartner mit Andeutungen und Nachfragen so lange entgegenkommen, bis es ihm möglich wird, unangenehme oder auch nur unhöfliche Wahrheiten auszusprechen. Weil das nicht immer klappt, überbringen Londoner die harten Nachrichten lieber schriftlich.
    Ich lebte schon Jahre bei den Flints, als ich einmal wegen eines Missverständnisses zwei Wochen mit der Miete in Rückstand geriet. Ich hatte nicht gewusst, dass von dem Moment an, als mein Profivertrag mit 17 in Kraft trat, nicht mehr Arsenal, sondern ich selbst die 80 Pfund pro Woche zahlen musste. Die Flints sagten mir das auch nicht. Sie behandelten mich 14 Tage lang, als wäre nichts. Dann legte mir Eileen einen Zettel auf den Korb mit meiner Wäsche. Ich sollte doch bitte meine Miete bezahlen.
     
    Angesichts meines wackligen Englischs wagte ich es nicht, mich morgens in der Küche mit Großmutter Mary auf einen leidenschaftlichen Austausch über das Wetter einzulassen. Aber im Stillen dachte ich mir: Sie hat ja recht. Das Londoner Wetter verdiente all ihre
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