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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm
Autoren: Judith Arendt
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letzten Monaten so oft erbrochen, immer wenn das Bild ihres Bruders mit dem Messer vor ihr erschien. Und das war praktisch ständig. Es holte sie ein, wenn sie in einen unruhigen Schlaf gefallen war. Es kam, wenn sie versuchte zu lesen. Es erschien, wenn sie sich mit Freunden traf. Was sie irgendwann nicht mehr tat. So, wie sie alles vermied, was nach Leben aussah. Sie hatte es nicht verdient. Sie hätte sterben sollen, gleich damals, auf der Stelle. Neben Derya.
    Anstatt sich von Zinar zu dem Mercedes ziehen zu lassen und zu dem Motel zu fahren, in dem sie wohnten. Am nächsten Tag hatten sie am Flughafen das Auto abgestellt, waren in den Flieger gestiegen und nach Ankara geflogen. Sie hatte jede Sekunde damit gerechnet, dass ihr jemand die Hand auf die Schulter legen und sie verhaften würde. Es war Serguls Hoffnung gewesen.
    Aber niemand hatte sie erlöst.
    Sergul atmete jetzt konzentriert durch die Nase und versuchte, sich so zu beruhigen. Sie blickte auf ihre rechte Hand, die das Papier umschloss, und löste langsam ihre verkrampften Finger. Dieses Papier war ihre Rettung. Etwas musste passiert sein, da drüben in Deutschland, nachdem sie Deryas deutschem Freund gestanden hatte, dass sie den Mord gesehen hatte. Es hatte lange gedauert, aber jetzt war etwas geschehen, sonst hätte man sie nicht auf die Wache vorgeladen.
    Jetzt kamen die Dinge ins Rollen, und es war nicht mehr viel, was sie noch tun musste. Sie würde es aufschreiben, ja, das würde sie tun müssen. Sie wusste nicht, was Papa unternahm, wie er das mit Zinar regelte. Aber sie musste sichergehen. Aras durfte nicht dafür büßen. Aras, der schöne, wunderschöne Aras. Der seine Schwester geliebt hatte, wie ein Bruder seine Schwester lieben musste. Nicht wie Zinar, der seiner Schwester das Schlimmste angetan hatte.
    Sergul richtete sich auf. Sie hatte sich alles zurechtgelegt. Das Papier und den Stift. Die Flasche Raki und die Schachteln mit dem Valium. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde sie alles getan haben, was sie tun musste.
    B ERLIN- M OABIT, L ANDGERICHT B ERLIN, S AAL 500,
EIN F REITAG IM F EBRUAR, ELF U HR
    Die Verhandlung lief seit eineinhalb Stunden. Die Anspannung im Raum war mit den Händen zu greifen. Eine Woche war es her, dass Aras Demizgül seine Aussage gemacht hatte, eine lange Woche, in der die Richter, der Staatsanwalt und der Verteidiger den Namen, den Aras damals genannt hatte, überprüft hatten. Zinar Kara. Der Verlobte von Derya.
    Veronika Karst hatte sich mit ihren Richterkollegen zur Beratung zurückgezogen, und sie hatten in Absprache mit Eisenrauch und Kaimoglu beschlossen, die Verhandlung sofort abzubrechen. Die ermittelnden Beamten sollten versuchen, bis zum folgenden Verhandlungstermin der Aussage nachzugehen – die sich mit dem, was Valentin bereits über Sergul bei der Polizei ausgesagt hatte, deckte.
    Eine Woche, in der Ruth Holländer partout nicht in Erfahrung bringen konnte und durfte, was die Ermittlungen zu Tage fördern würden. Wie gerne hätte sie Hannes Eisenrauch angerufen und sich nach dem Stand der Dinge erkundigt. Allein: Sie durfte es nicht tun. Sie hätte es auch nicht gekonnt, denn sie hatte keine Telefonnummer von ihm. Sie wusste nichts – weder, wo er sein Büro hatte, noch wo er wohnte. Sie wusste nur, dass sie schrecklich verliebt war. Und die eine Woche Abstinenz verstärkte dieses Gefühl noch.
    Jamila zog sie bereits auf, der Freundin war an dem Fest nicht entgangen, dass Ruth sich einerseits bemüht hatte, Eisenrauch aus dem Weg zu gehen, ihm aber andererseits laufend »heimliche« Blicke zuwarf. Peinlich, dachte Ruth, ich habe mich benommen wie ein liebeskranker Teenie.
    Die eine Woche zog sich für Ruth wie Kaugummi. Ihre Gedanken waren entweder mit dem Prozess beschäftigt oder mit dem Mann, der in ihrem Herzen Aufruhr verursacht hatte. Sie war auf der Arbeit nicht bei der Sache. Bei Fernando im Großmarkt kaufte sie einmal viel zu wenig Fisch – Seezunge stand auf der Karte, war aber bereits nach einer halben Stunde ausverkauft. Oder zu viel, so konnten sie noch zwei Tage lang frittierte Sardinen im »La Paysanne« anbieten und mussten den Rest entsorgen. Ruth zählte die Tage und die Stunden, bis sie endlich wieder auf dem Weg in den Gerichtssaal war. Zuvor hatte sie sich in horrende Ausgaben gestürzt, weil sie sich auf Annikas Anraten im Internet mit wenigen Klicks ein neues Outfit zusammengestellt hatte – Bleistiftrock, Wasserfallbluse und lilafarbene
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