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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm
Autoren: Judith Arendt
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antwortete konzentriert, höflich und, wie es schien, offen auf alle Fragen der Vorsitzenden Richterin. Er schilderte seinen Lebenslauf und beruflichen Werdegang.
    Er war als kleiner Junge im Alter von sechs Jahren aus einem Bergdorf in Anatolien nach Deutschland gekommen. Er wurde eingeschult, obwohl er kaum einen Brocken Deutsch verstand, geschweige denn selber sprechen konnte. Die Folge war eine schwere Schulzeit, geprägt von Hänseleien und schlechten Noten. Entsprechend groß war die Sehnsucht des kleines Aras, in die Heimat zurückzukehren. Aber je älter er wurde, desto mehr setzte sich sein Wille zum Erfolg durch, und ähnlich wie seine Eltern, die alle Kraft aufboten, es in Deutschland zu etwas zu bringen, arbeitete er an seinem Fortkommen. Hauptschulabschluss, dann die mittlere Reife, eine mit Bestnote abgeschlossene Lehre als Installateur, von seinem Meister mit Kusshand in den Betrieb übernommen. Er arbeitete ehrenamtlich als Taekwondo-Trainer für Kinder im Sportverein. Aras Demizgül war ein bestens assimilierter Kurde mit zwei Staatsbürgerschaften. Sein Arbeitgeber, seine Mitschüler, seine Freunde – alle bescheinigten ihm, ein sozialer, umgänglicher und angenehmer Mensch zu sein. Mit gelegentlich cholerischen Anfällen. Das gestand er selbst ein.
    Nach zwei Stunden intensiver, aber auch unspektakulärer Befragung setzte die Vorsitzende Richterin eine Pause an.
    Im Beratungszimmer riss Hochtobel erst einmal die Fenster auf und konnte sich der Zustimmung aller dafür gewiss sein. Die vergangene Befragung hatte Konzentration verlangt. Denn obwohl das Verhältnis zu seiner Schwester und die Geschehnisse in der Tatnacht noch nicht berührt worden waren, hatte im Saal gespannte Aufmerksamkeit geherrscht, als Aras Demizgül über sich und sein bisheriges Leben berichtet hatte.
    Ruth spürte jetzt den Druck hinter der Stirn, der sich in den vergangenen zwei Stunden aufgebaut hatte, und beobachtete, dass es ihren Kollegen nicht anders ging. Veronika Karst rollte sich mit einem Aromastift Pfefferminzöl auf Schläfen und Handgelenke, der ältere Richter stellte sich neben Hochtobel an das offene Fenster, und der Jüngere bat darum, sich auf dem Flur die Beine vertreten zu dürfen. Sie brauchten alle eine Pause, keiner verspürte das Bedürfnis danach, sich mit den anderen über das Gehörte auszutauschen.
    Ruth schenkte sich eine frische Tasse Kaffee ein und schaltete dabei ihr Handy an. Sie hatte ein paar belanglose Nachrichten – Jamila schrieb, dass im Bistro alles bestens lief, Annika beschwerte sich per SMS über eine Vier in Englisch, und dann war da noch eine Nachricht auf ihrer Mobilbox. Ruth erkannte die Nummer nicht gleich, aber als sie Johannes’ Stimme hörte, ahnte sie, dass es keine gute Idee war, die Nachricht jetzt abzuhören.
    »… und da wollte ich fragen, ob ich vielleicht ein paar Tage in unserer alten Wohnung pennen kann. Also bei dir, in Lukas’ altem Zimmer …« Ruth zuckte vor Ärger über die Dreistigkeit ihres Ex derart zusammen, dass sie sich den heißen Kaffee über die Bluse goss.
    »Verdammt!« Panisch schmiss Ruth das Handy auf den Tisch und setzte die fast leere Tasse ab, gleichzeitig versuchte sie, das triefend heiße Kleidungsstück von ihrer Haut fernzuhalten. Ihr Dekolleté hatte schon etwas abbekommen und war krebsrot; die Bluse, ein Hauch cremefarbener H&M -Eleganz, extra für die Gerichtsverhandlung gekauft, ruiniert. Die Blicke der Männer im Raum waren mitleidig auf sie gerichtet, nur Hochtobel riss geistesgegenwärtig alle Taschentücher aus der Packung, die er in der Jacketttasche hatte. Ruth tupfte notdürftig, aber es würde ihr niemals gelingen, sich in einen Zustand zu versetzen, in dem sie wieder an der Verhandlung teilnehmen konnte.
    »Kommen Sie mit.« Richterin Karst war aufgestanden und bat die Schöffin auf den Flur. »Ich habe eine Ersatzbluse in meinem Spind. Wenn Sie wollen …?«
    Ruth folgte der Richterin dankbar über die verwirrenden Gänge des Landgerichts. Es ging treppauf und treppab, sie hätte den Weg zurück alleine nie gefunden, aber die Richterin eilte mit wehender Robe zielstrebig voran. Schließlich erreichten sie ein kleines Kabuff, ein Arbeitszimmer, das sich drei Richterinnen teilen mussten. Veronika Karst holte eine dezent gestreifte Baumwollbluse aus einem Schrank und zeigte Ruth den Weg zur nächsten Damentoilette.
    Die Bluse passte halbwegs, sie spannte lediglich zwischen den Brüsten, denn Ruth war etwas stämmiger gebaut
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