Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Unschuldig

Titel: Unschuldig
Autoren: Andrea Vanoni
Vom Netzwerk:
sich bald mit Dr. Weber in Verbindung zu setzen, um alles über die Würmer herauszufinden, die im Gesicht der Toten aufgefunden worden waren.
     
    Als Paula in das Restaurant zurückkehrte, war die Leiche bereits abtransportiert worden, und die Spurensicherung hatte ihre Arbeit fortgesetzt. Sie ging noch einmal in die Küche, um Verena Köster zu fragen, wo sie ungestört weitere Zeugenbefragungen während der nächsten Stunden führen könne. Dabei drängte sie sich an zwei Beleuchtern vorbei, die ihre Geräte in den hinteren Teil der Küche schleppten.
    »Los, Tempo! Noch vier Meter Schiene!«
    Die Aufnahmeleiterin versprach ihr, den Wohnwagen der Komparsen freimachen zu lassen. Dort könne sie in Ruhe ihre Gespräche fortsetzen. Paula nickte ihr dankend zu und ging hinaus. Dann informierte sie Tommi, der noch mit der Befragung der Nachbarn beschäftigt war, dass sie nun für eine gute Stunde unterwegs sein würde. Sie wollte unbedingt ihre Schwester und ihren Neffen von der Bahn abholen. »Kein Problem«, sagte Tommi. »Ich halte hier die Stellung.«
     

3
    P aula wusste, wie sehr Sandra und Manuel sich auf den Besuch bei ihr in Berlin gefreut hatten. Aber sie wusste auch, dass in Mordfällen gerade die ersten achtundvierzig Stunden für die polizeiliche Ermittlungsarbeit besonders wichtig waren.
    Jetzt werde ich kaum Zeit haben für die beiden, dachte sie traurig. Zum Glück gab es Jonas, der mittags zu Hause sein und sich um ihre Gäste kümmern würde. Das hatte er versprochen. Sie versuchte ihn in der Klinik zu erreichen, aber er ging nicht ran. Wahrscheinlich operierte er gerade. Also hinterließ sie ihm die Nachricht auf der Mailbox, sie habe einen aktuellen Mordfall und sei jetzt auf dem Weg zum Bahnhof, um Sandra und Manuel abzuholen.
    Paula eilte über den Ku’damm und den Adenauerplatz zurück in die Sybel, um ihren Autoschlüssel zu holen. Den Wagen hatte sie gestern einige Hundert Meter entfernt auf dem Stuttgarter Platz parken müssen, weil es in den benachbarten Straßen keine freien Plätze mehr gab.
    Sandra hatte ihr eine SMS geschickt: »13.08 Uhr Hauptbahnhof. Freuen uns sehr auf Euch!«
    Auf dem Stuttgarter Platz, den die Berliner liebevoll »Stutti« nennen, sah sie die Obdachlose schon von Weitem. Sie begegnete ihr regelmäßig beim Einkaufen. Die Frau, die um die sechzig sein mochte, streunte herum und überschüttete erstaunte Passanten mit einem unverständlichen Wortschwall. Dicke Tränensäcke verunstalteten ihr Gesicht ebenso wie die wirren verfilzten Haarsträhnen, die unter einem ausgebleichten roten Kopftuch hervorlugten. Ihre Züge waren von Alkohol, Nikotin und jahrelangen Entbehrungen gezeichnet. Sie trug einen ausgefransten grauen Mantel mit großen, verschiedenfarbigen Knöpfen und roch schlecht. Trotz allem konnte sie die Leute in dieser riesigen Stadt nicht wirklich erschrecken, sie fühlten sich nur ein wenig belästigt. Gelangweilt wandten sie den Blick ab, wenn die unglückliche Person auftauchte.
    Im Januar hatte die Obdachlose Paula mehr als zwei Stunden lang dabei geholfen, ihr Auto freizuschaufeln, nachdem die Stadtverwaltung beschlossen hatte, nicht mehr zu streuen. Auch der Schnee wurde nicht geräumt, und so waren zahlreiche Autos in den Harsch- und Eisbergen einfach festgefroren. Paula hatte ihr ein gutes Trinkgeld für ihre Hilfe gegeben und zum Glück noch am selben Tag einen Platz in einer Mietgarage bis Anfang März gefunden.
    Obgleich in den Hauptstadt-Zeitungen erboste Artikel über die Stadtverwaltung zu lesen waren, regten sich die Einheimischen erst wirklich auf, als für das Berliner Filmfest, die Berlinale, nur der Marlene-Dietrich-Platz vom Eis befreit wurde, damit die amerikanischen Stars trockenen Fußes in die Filmpremieren stöckeln konnten. Die Berliner hatten den ganzen Winter über mit dem ihnen eigenen Galgenhumor täglich über hundert Knochenbrüche und zahlreiche Unfälle zu ertragen.
    Heute war die Obdachlose damit beschäftigt, einen Abfallkorb am Rand des Parkplatzes auf Brauchbares hin zu untersuchen. Sie hatte eine Plastiktüte dabei, in der bereits mehrere Flaschen klirrten. Als sie Paula bemerkte, winkte sie freundlich. Paula ging auf sie zu und drückte ihr ein Zweieurostück in die Hand. »Die Firma dankt«, sagte die Frau grinsend und wandte sich wieder dem Abfallbehälter zu.
    Paula wählte den Weg über die B96. Auf der Fahrt zum Hauptbahnhof dachte sie darüber nach, wie cool, dreckig, lebendig und bunt Berlin war. Die Stadt war
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher