Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unmoralisch

Unmoralisch

Titel: Unmoralisch
Autoren: Brian Freeman
Vom Netzwerk:
dem einen saß wie verloren eine Frau mit einem bauchigen Glas Brandy in der Hand. Sie nickte Stride zu, ohne aufzustehen. »Ich bin Emily Stoner, Rachels Mutter«, sagte sie leise.
    Emily war zwar ein paar Jahre jünger als Graeme, aber keineswegs eine Vorzeigeehefrau. Stride dachte, dass sie früher sehr hübsch gewesen sein musste, doch das Älterwerden stand ihr nicht gut. Ihre blauen Augen blickten müde, und sie hatte die Haut darum herum stark geschminkt, um von den dunklen Schatten darunter abzulenken. Sie hatte kurzes, glattes dunkles Haar, das ungewaschen wirkte, und trug Jeans und einen schlichten dunkelblauen Pullover.
    Gleich neben Emily, ihre linke Hand in seiner, saß ein Mann Ende vierzig am Kamin. Sein grau meliertes Haar war so frisiert, dass es einen lichten Haaransatz überdeckte. Er stand auf, gab Stride die Hand und hinterließ dabei einen klammen Feuchtigkeitsfilm, den Stride unauffällig abzuwischen versuchte. »Guten Abend, Lieutenant. Mein Name ist Dayton Tenby. Ich bin Pfarrer in Emilys Gemeinde. Sie hat mich gebeten, ihr heute Abend beizustehen.«
    Graeme Stoner nahm in einem Sessel vor den Fenstern zum Garten Platz. »Ich bin sicher, Sie haben uns einige Fragen zu stellen. Wir werden Ihnen natürlich alles sagen, was wir wissen, aber ich fürchte, das ist nicht besonders viel. Und wo wir gerade dabei sind, schaffen wir doch auch gleich das Unangenehme aus der Welt. Meine Frau und ich haben absolut nichts mit Rachels Verschwinden zu tun, aber wir sehen ein, dass Sie in einer solchen Situation zuerst die Familie überprüfen müssen. Wir sind selbstverständlich bereit, in jeder Weise zu kooperieren und uns, wenn nötig, auch einem Lügendetektortest zu unterziehen.«
    Stride war erstaunt. Normalerweise war es ausgesprochen schwierig, den Familienangehörigen klar zu machen, dass sie verdächtigt wurden. »Ehrlich gesagt führen wir nach Möglichkeit tatsächlich Lügendetektortests bei den Familienangehörigen durch.«
    Emily warf Graeme einen nervösen Blick zu. »Ich weiß nicht recht.«
    »Das ist nur eine Routineangelegenheit, Schatz«, sagte Graeme. »Schicken Sie Ihre Fragen an Archibald Gale, Lieutenant. Er wird uns in dieser Angelegenheit vertreten. Wenn Sie möchten, können wir das gleich morgen hinter uns bringen.«
    Stride verzog das Gesicht. Dann war es mit der Kooperation also doch nicht so weit her. Archie Gale war der gefürchtetste Strafverteidiger in Nordminnesota, und Stride hatte sich selbst schon mehrfach im Zeugenstand mit dem weltgewandten alten Haudegen angelegt.
    »Halten Sie es denn für nötig, einen Anwalt einzuschalten?«, erkundigte er sich in kühlerem Ton.
    »Sie dürfen das nicht falsch verstehen.« Graeme sprach genauso ruhig und herzlich wie zuvor. »Wir haben nichts zu verbergen. Aber in den heutigen Zeiten wäre es leichtsinnig, sich keinen Rechtsbeistand zu nehmen.«
    »Aber Sie sind bereit, jetzt mit mir zu reden, auch wenn Gale nicht dabei ist?«
    Graeme lächelte. »Archie ist gerade auf dem Rückweg aus Chicago. Er hat sich zähneknirschend einverstanden erklärt, dass wir die Fakten ohne ihn durchgehen.«
    Zähneknirschend. Stride kannte Gale und wusste, dass das sicher stark untertrieben war. Aber er wollte sich die Chance nicht entgehen lassen. Es war vielleicht die letzte Gelegenheit, mit den Eltern zu reden, ohne dass ein Anwalt jedes Wort auf die Goldwaage legte.
    Er zog ein Notizbuch aus der Gesäßtasche und schraubte seinen Füller auf. Gleich links von ihm stand ein Sekretär. Er zog sich den Drehstuhl heran und setzte sich. »Wann haben Sie Rachel zum letzten Mal gesehen?«, fragte er dann.
    »Am Freitagmorgen, bevor sie zur Schule gegangen ist«, sagte Graeme.
    »Ist sie mit dem Auto gefahren?«
    »Ja. Der Wagen war weg, als ich abends nach Hause gekommen bin.«
    »Aber Sie haben nicht mitbekommen, ob sie in der Nacht zurückgekommen ist?«
    »Nein. Ich bin um zehn Uhr ins Bett gegangen, und ich habe einen sehr tiefen Schlaf. Ich habe absolut nichts gehört.«
    »Was haben Sie am Samstag gemacht?«
    »Ich war fast den ganzen Tag im Büro. Wie immer.«
    »Waren Sie zu diesem Zeitpunkt zu Hause, Mrs Stoner?«
    Emily hatte die ganze Zeit ins Feuer gestarrt und sah ihn jetzt erschrocken an. Sie trank einen großen Schluck Brandy, und Stride überlegte, wie viel sie wohl schon getrunken hatte. »Nein. Ich bin erst heute am frühen Nachmittag nach Hause gekommen.«
    »Wo waren Sie?«
    Sie brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln. »Auf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher