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Unmoralisch

Unmoralisch

Titel: Unmoralisch
Autoren: Brian Freeman
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eigentlich anrufen.«
    »Ich habe doch gesagt, es macht nichts.«
    Emily nickte. Sie fühlte sich innerlich leer. »Ich dachte, du bist vielleicht sauer.«
    »Aber nein.«
    »Hast du mich vermisst?«
    Graeme wischte die Frage mit einer Geste fort, als wäre sie ein Stäubchen. »Wie kannst du so etwas Dummes fragen? Du weißt doch, dass ich mich ohne dich kaum zurechtfinde. Gestern wollte ich wandern gehen und konnte nicht mal meine Turnschuhe finden.«
    »Deine Schuhe«, murmelte Emily und schüttelte den Kopf.
    Dayton trat wieder ins Zimmer. In dem Glas, das er in der Hand hielt, schien weniger Brandy zu sein als beim letzten Mal. Emily nahm es und leerte es in einem Zug, ohne darauf zu achten, wie sehr der Alkohol in ihrer Kehle brannte. Dann gab sie Dayton das Glas zurück und wandte sich ab. Sie wischte sich die Augen, obwohl sie wusste, dass es schon zu spät war. Er hatte die Tränen bereits gesehen.
    »Sie macht das, um mich zu strafen«, sagte sie. »Für sie ist das alles nur ein Spiel.«
    »Vielleicht geht es dabei viel mehr um Tommy als um dich. Auch noch nach all den Jahren.«
    »Tommy«, wiederholte sie verbittert.
    »Er war ihr Vater, Emily«, sagte Dayton sanft. »Sie war acht Jahre alt. Ihr Vater war für sie unfehlbar.«
    »Natürlich. Jeder liebte Tommy«, gab Emily zurück. »Und ich war immer nur die Böse. Kein Mensch hat je begriffen, was er uns angetan hat.«
    »Ich schon«, sagte Dayton.
    Emily griff nach seiner Hand. »Ja, ich weiß. Danke. Und danke, dass du heute hergekommen bist. Ich glaube, ohne dich hätte ich das nicht durchgestanden.«
    Graeme stand auf. »Ich bringe Sie nach draußen, Dayton«, sagte er, und seine Stimme war eine Maske der Höflichkeit. »Ich sorge dafür, dass die Reporter Sie nicht belästigen.«
    Dayton wirkte schmächtig neben dem größeren Mann, als sie gemeinsam die Veranda verließen. Emily sah ihnen nach, lauschte ihren Schritten, hörte das Lärmen der Menge draußen, als die Haustür geöffnet wurde, und dann die Grabesstille, nachdem die Tür wieder ins Schloss gefallen war.
    Sie war allein.
    Inzwischen fühlte sie sich sogar allein, wenn sie mit Graeme zusammen war.
    Er sagte die richtigen Dinge, er behandelte sie gut und ließ ihr die Freiheit, ihr eigenes Leben zu führen. Aber er tat nicht einmal mehr so, als gäbe es noch Leidenschaft zwischen ihnen. Emily fragte sich, ob er überhaupt noch etwas für sie empfand. Sie hatte ihn absichtlich nicht aus St. Louis angerufen – sie hatte ihn ärgern wollen. Er sollte sie so vermissen, dass er von selbst anrief. Wenn er anrief, wenn er sie vermisste, sie anschrie, würde sie wenigstens wissen, dass er Gefühle hatte.
    Aber er brauchte sie nicht. Nur, wenn er seine Schuhe nicht finden konnte.
    Und dann war sie nach Hause gekommen, und Rachel war verschwunden gewesen. Seit Jahren schon hatte sie damit gerechnet, sich immer wieder gefragt, wann ihre Tochter ihr wohl einen Zettel hinlegen und einfach verschwinden würde. Manchmal hatte sie sich das sogar gewünscht, weil es allen Feindseligkeiten ein Ende gesetzt und ihr wieder ein friedlicheres Leben ermöglicht hätte. Aber sie hatte nie damit gerechnet, dass sie sich so leer fühlen würde, wenn es tatsächlich geschah. Jetzt konnte sie nur noch an all die vertanen Gelegenheiten denken, die die Kluft zwischen ihnen vergrößert hatten. Emily hatte sich längst damit abgefunden, dass Rachel nie begreifen würde, wie sehr ihre Mutter sie liebte, trotz all des Giftes, das sie seit Jahren in ihre Richtung schleuderte. Sie konnte nicht aufhören, Rachel zu lieben, selbst wenn sie es bewusst versuchte.
    Jetzt war sie fort.
    Und wenn sie gar nicht ausgerissen war? Wenn ihr dasselbe passiert war wie dem anderen Mädchen, das auf offener Straße entführt worden war?
    »Wo bist du nur, Baby?«, sagte sie laut.
    Dann hörte sie Geräusche aus der Diele. Die Tür ging auf, Graeme kam zurück. Sie wollte ihn nicht sehen. Sie konnte das alles nicht verkraften: die Entfremdung von Graeme, die Angst um Rachel. Rasch stand sie auf und floh durch die Küche zur Treppe. Sie hörte, dass Graeme wieder auf die Veranda trat, und stellte sich vor, wie er sich in dem leeren Raum umschaute und feststellte, dass sie nicht mehr da war. Sie glaubte nicht, dass er ihr folgen würde, und er tat es auch nicht. Sie hörte das leise Klappern der Tastatur – er hatte sich an den Schreibtisch gesetzt und am Computer zu arbeiten begonnen. Sie rannte die Treppe hinauf ins obere
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