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Ungeduld des Herzens.

Ungeduld des Herzens.

Titel: Ungeduld des Herzens.
Autoren: Stefan Zweig
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hatte sich an der Save erschossen, meine Kameraden waren gefallen oder hatten längst die nichtige Episode vergessen – alles »zuvor« war doch so nichtig und ungültig geworden in diesen vier apokalyptischen Jahren wie das frühere Geld. Niemand konnte mich anklagen, niemand mich richten; mir war wie einem Mörder, der die Leiche seines Opfers im Gehölz vergraben hat und der Schnee beginnt zu fallen, dicht, weiß, schwer; Monate noch, weiß er, wird die schützende Decke über seiner Untat liegen und dann jede Spur für immer verloren sein. So faßte ich Mut und begann wieder zu leben. Da niemand mich erinnerte, vergaß ich schon selbst meine Schuld. Denn tief und gut vermag das Herz zu vergessen, wo es dringlich vergessen will.
    Nur einmal kam das Erinnern vom andern Ufer zurück. Ich saß im Parterre der Wiener Oper auf einem Ecksitz der letzten Reihe, um wieder einmal den Gluck'schen »Orpheus« zu hören, dessen reine und verhaltene Schwermut mich mehr als jede andere Musik ergreift. Eben endete die Ouvertüre, man erhellte in der knappen Pause nicht den verdunkelten Saal, ließaber einigen Nachzüglern noch Gelegenheit, sich im Dunkel auf ihre Plätze zu begeben. Auch zu meiner Reihe schatteten zwei dieser Spätkömmlinge, ein Herr und eine Dame.
    »Darf ich bitten«, neigte sich höflich der Herr mir zu. Ohne ihn zu beachten oder zu betrachten, stand ich auf, um den Durchlaß freizugeben. Aber statt sich sogleich auf den leeren Platz neben mich zu setzen, schob er zuerst behutsam mit führenden, zärtlich lenkenden Händen die Dame voran; er zeigte, er ebnete ihr gleichsam den Weg und klappte ihr überdies fürsorglich den Sitz auf, ehe er sie in den Fauteuil niedersenkte. Diese Art der Obhut war zu ungewöhnlich, um mir nicht aufzufallen. Ach, eine Blinde, dachte ich und blickte unwillkürlich mitfühlend zu ihr hin. Aber da nahm neben mir der etwas dickliche Herr Platz, und mit einem Riß im Herzen erkannte ich ihn: Condor! Der einzige Mensch, der alles wußte, der mich kannte bis in die tiefsten Tiefen meiner Schuld, saß atemnah neben mir. Er, dessen Mitleid nicht eine mörderische Schwäche gewesen wie das meine, sondern aufopfernde, sich selbst aufopfernde Kraft, er, der einzige, der mich richten konnte, der einzige, vor dem ich mich zu schämen hatte! Wenn im Zwischenakt die Lüster aufflammten, mußte er mich sofort erkennen.
    Ich begann zu zittern und schob hastig die Hand vor mein Gesicht, um wenigstens im Dunkel geschützt zu sein. Nicht eine Schwingung hörte ich mehr von der geliebten Musik, mein Herz hämmerte zu heftig. Die Nähe dieses Menschen, des einzigen auf Erden, der wahrhaft um mich wußte, erdrückte mich. Als säße ich splitternackt im Dunkel unter all den wohlgekleideten und wohlanständigen Menschen, schauerte ich jetzt schon vor dem Augenblick, da die aufflammende Beleuchtung mich offenbaren mußte. Und so drückte ich in dem kurzen Intervall zwischen dunkel und hell, während überden ersten Akt der Vorhang zu sinken begann, rasch den Kopf nieder und flüchtete durch den Mittelgang – ich glaube, rasch genug, daß er mich nicht sehen, nicht erkennen konnte. Aber seit jener Stunde weiß ich neuerdings: keine Schuld ist vergessen, solange noch das Gewissen um sie weiß.
     
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