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Ungeduld des Herzens.

Ungeduld des Herzens.

Titel: Ungeduld des Herzens.
Autoren: Stefan Zweig
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bin. Der Apotheker wird sich vielleicht zunächst noch beschwatzen lassen – aber Edith, der Vater, die andern? – Wer wird sie verständigen, wer ihnen alles erklären? Sieben Uhr morgens: jetzt wacht sie auf, und ihr erster Gedanke bin ich. Vielleicht blickt sie schon von der Terrasse – ah, die Terrasse, warum schauert's michimmer, wenn ich an das Geländer denke? – mit dem Teleskop zum Exerzierplatz hinüber, sieht unser Regiment traben und weiß nicht und ahnt nicht, daß dort einer fehlt. Aber nachmittags beginnt sie zu warten, und ich komme nicht, und niemand hat ihr etwas gesagt. Keine Zeile habe ich ihr geschrieben. Sie wird telephonieren, man wird ihr mitteilen, daß ich abkommandiert sei, und sie wird es nicht verstehen, wird es nicht fassen. Oder fürchterlicher noch: sie wird es begreifen, sofort begreifen und dann ... Plötzlich sehe ich Condors drohenden Blick hinter den blitzenden Gläsern, ich höre wieder, wie er mich anschreit: »Es wäre ein Verbrechen, ein Mord!« Und schon überschneidet ein anderes Bild das erste: wie sie sich damals aufstemmte aus dem Lehnstuhl und gegen die Brüstung der Terrasse warf, den Abgrund, den Selbstmord schon in den Blicken.
    Ich muß etwas tun, sofort etwas tun! Gleich vom Bahnhof muß ich ihr telegraphieren, irgend etwas telegraphieren. Ich muß unbedingt verhindern, daß sie in ihrer Verzweiflung etwas Brüskes, etwas Unwiderrufliches tut. Nein, ich soll doch nichts Brüskes, nichts Unwiderrufliches tun, hat Condor gesagt, und wenn etwas Schlimmes passiert, ihn sofort verständigen. In die Hand habe ich es ihm versprochen, und Wort ist Ehrenwort. Gott sei Dank: in Wien habe ich dazu noch zwei Stunden Zeit. Erst mittags geht der Zug weiter. Vielleicht erreiche ich Condor noch. Ich muß ihn erreichen.
    Sofort bei der Ankunft übergebe ich meinem Burschen das Gepäck. Er soll damit gleich auf die Nordwestbahn fahren und dort auf mich warten. Dann jage ich im Wagen hin zu Condor und bete (ich bin sonst nicht fromm): »Gott, laß ihn zu Hause sein, laß ihn zu Hause sein! Nur ihm kann ich's erklären, nur er kann mich verstehen, nur er kann helfen.«
    Aber lässig schlurft mir das Dienstmädchen entgegen,das bunte Aufräumetuch um den Kopf, der Herr Doktor sei nicht zu Hause. Ob ich auf ihn warten könnte? »Na, vor Mittag kommt er net.« Ob sie wisse, wo er sei? »Na, waaß net. Er geht von einem zum andern.« Ob ich vielleicht Frau Doktor sprechen könnte? »Ich wer's fragen«, schupft sie die Achseln und geht hinein.
    Ich warte. Dasselbe Zimmer, dasselbe Warten wie damals und – gottlob – jetzt von nebenan derselbe leise schleifende Schritt.
    Die Tür öffnet sich, zaghaft, unsicher. Wie damals ist es, als ob ein Lufthauch sie aufgeweht hätte, nur kommt diesmal die Stimme gütig und herzlich mir entgegen.
    »Sie sind es doch, Herr Leutnant?«
    »Ja«, sage ich, während ich mich – immer die gleiche Torheit! – vor der Blinden verbeuge.
    »Ach, das wird meinem Mann furchtbar leid tun! Ich weiß, er wird es sehr bedauern. Aber ich hoffe, Sie können doch warten. Spätestens um ein Uhr kommt er zurück.«
    »Nein, leider – ich kann nicht warten. Aber ... aber es ist sehr wichtig ... könnte ich ihn nicht vielleicht telephonisch bei irgendeinem Patienten erreichen?«
    Sie seufzt. »Nein, ich fürchte, das wird nicht möglich sein. Ich weiß nicht, wo er ist ... und dann, wissen Sie ... die Leute, die er am liebsten behandelt, haben gar kein Telephon. Aber vielleicht könnte ich selbst ...«
    Sie tritt heran, ein scheuer Ausdruck huscht über ihr Gesicht. Sie möchte etwas sagen, aber ich sehe, sie schämt sich. Endlich versucht sie:
    »Ich ... ich merke ... ich spüre schon, daß es sehr dringlich sein muß ... und wenn eine Möglichkeit bestünde, so würde ich Ihnen ... würde ich Ihnen natürlich sagen, wie man ihn erreichen kann. Aber ... aber ... vielleicht könnte ich ihm selbst Bescheid geben, sobald er zurückkommt ... es ist doch wahrscheinlich wegen des armen Mädchens draußen, zu dem Sie immer sogut sind ... Wenn Sie wollen, so übernehme ich es gern ...«
    Und nun geschieht mir das Unsinnige, daß ich nicht wage, ihr in die blinden Augen zu schauen. Ich habe, ich weiß nicht wieso, das Gefühl, sie wüßte schon alles, sie hätte alles erraten. Eben darum schäme ich mich so sehr und stammle nur:
    »Zu gütig von Ihnen, gnädige Frau, doch ... ich möchte Sie nicht bemühen. Wenn Sie gestatten, kann ich ihm auch schriftlich das Wesentliche
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