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Ungeduld des Herzens.

Ungeduld des Herzens.

Titel: Ungeduld des Herzens.
Autoren: Stefan Zweig
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dieses Zittern von den angekrampften Fäusten bis hinauf ins Haar. Und plötzlich bricht es heraus: ein Schluchzen, wild, elementar wie ein erstickter Schrei.
    Aber schon sind von rechts und links die beiden alten Damen um sie herum, schon fassen, streicheln, umschmeicheln, beschwichtigen sie die Bebende, schon lösen sie ihre Hände, die angekrampften, sanft vom Tisch, und sie fällt wieder in den Fauteuil zurück. Doch das Weinen hält an; eher vehementer wird es, wie ein Blutsturz, wie ein heißes Erbrechen fährt es in einzelnen Stößen immer wieder zuckend heraus. Wenn die Musik hinter dem Paravent (die all das überlärmt) nur einen Augenblick innehält, muß man das Schluchzen bis in den Tanzraum hinüberhören.
    Ich stehe da, vertölpelt, erschreckt. Was – was ist denngeschehen? Ratlos starre ich zu, wie die beiden alten Damen die Schluchzende zu beruhigen suchen, die jetzt in erwachender Scham ihren Kopf auf den Tisch geworfen hat. Aber immer wieder neue Stöße von Weinen laufen, Welle nach Welle, den schmalen Leib bis hinauf in die Schultern, und bei jedem dieser jähen Stöße klirren die Schalen mit. Ich aber stehe gleich ratlos da, Eis in den Gelenken, gewürgt von meinem Kragen wie von einem heißen Strick.
    »Verzeihung«, stottere ich schließlich halblaut in die leere Luft und trete – beide Frauen sind um die Schluchzende beschäftigt, keine hat einen Blick für mich – ganz taumlig in den Saal zurück. Hier hat anscheinend noch niemand etwas bemerkt, stürmisch drehen sich die Paare, und ich spüre, daß ich mich an dem Pfosten halten muß, so schwingt der Raum um mich her. Was ist geschehen? Habe ich etwas angestellt? Mein Gott, am Ende habe ich bei Tisch zu viel, zu rasch getrunken und jetzt in der Benommenheit einen Blödsinn getan!
    Da stoppt die Musik, die Paare lösen sich. Mit einer Verbeugung gibt der Bezirkshauptmann Ilona frei, und sofort stürze ich auf sie zu und schleppe die Aufstaunende fast gewaltsam beiseite: »Bitte helfen Sie mir! Um Himmels willen, helfen Sie, erklären Sie mir!«
    Offenbar hatte Ilona erwartet, ich hätte sie zum Fenster gedrängt, um ihr etwas Lustiges zuzuflüstern, denn ihre Augen werden plötzlich hart: anscheinend muß ich mitleiderregend oder erschreckend ausgesehen haben, in meiner Aufgeregtheit. Mit fliegenden Pulsen erzähle ich alles. Und sonderbar: mit dem gleichen krassen Entsetzen im Blick wie jenes Mädchen drinnen fährt sie mich an:
    »Sind Sie wahnsinnig geworden ...? Wissen Sie denn nicht ...? Haben Sie denn nicht gesehen ...?«
    »Nein«, stottere ich, vernichtet von diesem neuen und ebenso unverständlichen Entsetzen. » Was gesehen? ... Ichweiß doch nichts. Ich bin doch zum erstenmal hier im Hause.«
    »Haben Sie denn nicht bemerkt, daß Edith ... lahm ist ...? Nicht ihre armen verkrüppelten Beine gesehen? Sie kann sich doch keine zwei Schritte ohne Krücken fortschleppen ... und Sie ... Sie Roh...« – (sie unterdrückt rasch ein Zornwort) – »... Sie fordern die Arme zum Tanz auf ... oh, entsetzlich, ich muß gleich hinüber zu ihr ...«
    »Nein« – (ich packe Ilona in meiner Verzweiflung am Arm) – »einen Augenblick noch, einen Augenblick ... Sie müssen mich bei ihr entschuldigen. Ich konnte doch nicht ahnen ... ich habe sie nur bei Tisch gesehen, nur eine Sekunde lang ... Bitte erklären Sie ihr doch ...«
    Aber schon hatte Ilona, Zorn im Blick, ihren Arm befreit, schon läuft sie hinüber. Ich stehe mit gewürgter Kehle, Übelkeit im Mund, an der Schwelle des Salons, der wirbelt und schwirrt und schwatzt mit seinen (mir plötzlich unerträglichen) unbefangen plaudernden, lachenden Menschen, und denke: fünf Minuten noch, und alle wissen von meiner Tölpelei. Fünf Minuten, dann tappen und tasten höhnische, mißbilligende, ironische Blicke von allen Seiten mich an, und morgen läuft, von hundert Lippen zerschmatzt, der Schwatz über meine rohe Ungeschicklichkeit durch die ganze Stadt, frühmorgens schon mit der Milch abgelagert an den Haustüren, dann breitgeschwenkt in den Gesindestuben und weitergetragen in die Kaffeehäuser, die Ämter. Morgen weiß man's in meinem Regiment.
    In diesem Augenblick sehe ich wie durch einen Nebel den Vater. Mit einem etwas bedrückten Gesicht – weiß er schon? – kommt er eben quer durch den Saal. Geht er am Ende auf mich zu? Nein – nur ihm jetzt nicht begegnen! Eine panische Angst packt mich plötzlich vor ihm und vor allen. Und ohne recht zu wissen, was ich tue, stolpereich
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