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Und wir scheitern immer schöner

Titel: Und wir scheitern immer schöner
Autoren: Dirk Bernemann
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passt mir wieder ein wenig mehr, ich zu sein. Das kommt vom Weniger-drüber-Nachdenken, wer ich denn eigentlich bin. Ich suche in meiner Handtasche meine Filterzigaretten.
     
    Als ich eine aus der Tasche fingere, fährt vor mir ein Kind Fahrrad. Direkt vor mir fährt ein Kind auf dieser Landstraße. Ich schreie und schließe die Augen. Bremse. Spüre den Aufprall eines Körpers auf der Windschutzscheibe. Es ist ein dumpfes Geräusch ähnlich einem Bassschlag der Musik. Nur viel lauter. Dann merke ich noch, wie mein Wagen etwas überfährt. Irgendetwas bricht auseinander. Ich komme zum Stehen. Die Geräusche multiplizieren sich in meinem Kopf und lösen auf der Stelle panischen Wahnsinn aus.
     
    Mein Herz schlägt nicht mehr in meiner Brust, sondern hauptsächlich in meinem Kopf. Ich atme stoßweise. Habe meine Augen immer noch geschlossen. Mir fehlt der Mut, sie zu öffnen. Ich schwitze und mir ist kalt. Meine Hände am Lenkrad, in einer eine Zigarette. Meine Angst lässt meinen Puls vibrieren.
     
    Dann aber doch: Augen auf. Im Rückspiegel erkenne ich ein deformiertes, blaues Kinderfahrrad. Ein Rad dreht sich noch. Daneben liegt ein kleiner Körper mit auffällig flachem Kopf. Rundherum Blut. Da bewegt sich gar nichts. Grau-weiße Nebelschwaden zirkulieren um Kind und Fahrrad. Zurück bleibt hemmende und hämmernde Angst.
     
    Ich steige aus. Meine Beine halten mich nicht aus und ich falle auf die Straße neben mein Auto. Dann überkommt mich Panik und Handlungszwang. Ich richte mich auf, gehe auf das Kind zu. Da liegt es deformiert auf der Straße. Knochenbrüche lassen die Gestalt des Kindes wie von Picasso gemalt wirken. Ganz abstrakt und gar nicht mehr Mensch. Die Menschlichkeit weggebrochen. Entfremdet vom Sein.
     
    Aus dem Kopf des Kindes sickert dunkelrotes Blut und irgendwas Gelbes. Großhirnflüssigkeit, denke ich. Denksaft rieselt die Straße entlang. Die Fließgeschwindigkeit dieser Kopfflüssigkeit ist rasant. Es verteilt sich schon im Straßengraben. Das Kind scheint tot zu sein. Beuge mich runter und fasse es an. Es hat einen brauen Anorak an und ist vielleicht sieben Jahre alt.
     
    Ich drehe den leichten Körper, den ich für schwerer hielt, um und sehe in ein Gesicht, in dem nichts mehr an seinem Platz ist. Ein leerer Blick, ein geöffneter Mund, keine kleine Nase. Das Gesicht ist eine einzige Wunde. Eine tödliche Wunde. Und es sickert unaufhörlich weiter. Über meine Schuhe. Das Kind sickert mich voll.
     
    Gedankenlos hebe ich das Kind auf. Trage es zu meinem Auto. Öffne den Kofferraum und werfe den toten Körper hinein. Klappe zu. Dann gehe ich zum Fahrrad und werfe es über den Straßengraben auf den dahinter liegenden Acker. Wieder zurück zum Auto. An dem ist kaum was kaputt. Die Stoßstange ein wenig eingedrückt. Und ein paar Haare kleben dran. Sonst nix.
     
    Ich zittere. Einen Gedanken zu weit gedacht. Ich will nicht schuld sein, denke ich. Ich will hier weg, denke ich auch. Das Kind ist tot, denke ich, als ich wieder losfahre – und zwar in die Richtung, aus der ich kam. Mein Kopf lässt meinen Körper per Zufallsprinzip reagieren. Die nächste Idee ist immer die richtige. Affektgesteuert. Instinktiv. Ich bin ein Tier. Ich töte wie ein Tier. Weit entfernt davon, ein Mensch zu sein.
     
    Musik an. Die Fahrt ist eine schnelle. Niemand hat's gesehen. Es gibt keine Zeugen. Jetzt bloß keine Fehler machen. Mein Leben ist zu Ende. Auf der Suche nach rechtfertigenden Gedanken beschleunige ich die Fahrt. Nach Hause.
     
    Kind in die Gefriertruhe? Kind zersägen? Kind vergraben? Zur Polizei und alles weinend erzählen und das Leben im Gefängnis enden lassen? Gedanken rasen. Nur keine Schuldgefühle. Da kommt nichts. Ich rauche auf der Heimfahrt fünf Zigaretten.
     
    An meiner Wohnung angekommen, parke ich ein und steige aus. Erst mal nach oben. Ich denke an den Inhalt meines Kofferraumes und mir wird schlecht und der Inhalt meines Magens will raus. Meine Wohnungstür quietscht öffentlich. Angekommen. Toilette. Deckel auf. Minutenlanges Würgen. Ich kotze mich aus. Unverdautes verlässt mich. Dann liege ich neben der Toilette und versuche mich in helfende Gedanken zu retten.
    Ich rufe zitternd im Salon an.
    «Salon Beauty Hair, Katharina, guten Tag.»
    «Kati, hier ist Anne, du hör mal, ich kann heut nicht kommen, bin total erkältet, mit Fieber und so ...»
    «Gut, ich sag's der Chefin, hörst dich ja gar nicht gut an, Mädchen.»
    «Mir geht's auch echt mies, muss wieder ins Bett.
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