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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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tropfnass und ausgekühlt. Die Männer breiten ihre ebenfalls durchnässten Decken und Rollkissen aus. Krustenfuß zieht aus dem Strohdach Reisig hervor und entfacht ein Feuer, Junkie und Rotchäppli sind verschwunden. Wir sitzen zu siebt um das lodernde Feuer, versuchen uns zu wärmen, die Männer ziehen ihre Sherwanis und Tücher ab und hängen sie zum Trocknen unter das Dach. David tut es ihnen nach, aber ich behalte meinen feuchten Turban auf, in der Hoffnung, dass er ein wenig Schutz gegen Läuse und Flöhe bietet. Draußen tobt das Gewitter, dicke, schwere Tropfen prasseln auf das Strohdach, während die tanzenden Flammen die Gesichter erleuchten und bizarre Schatten an die Wände werfen. Normalerweise mag ich keinen Feuerrauch, aber jetzt lasse ich mich davon einhüllen, verkrieche mich hinter Davids feuchtem Rücken, versuche, irgendeinen positiven Gedanken zu finden. Ich bitte Krustenfuß, das Feuer die Nacht über am Leben zu erhalten. Er willigt ein, und ich gleite in den Schlaf hinüber.
    Mitten in der Nacht hört Krustenfuß ein Geräusch hinter uns an der Wand. Er springt auf, weckt die anderen. Nur David und der Hirte bleiben liegen, während ein Tausendfüßler durch eine Ritze in der Steinmauer krabbelt und versucht, ein Stück Plastik nach draußen zu ziehen. Die Männer sind überraschend nervös, aber keiner traut sich in die Nähe der Geräuschquelle. David verscheucht das Spinnentier, und die Männer beruhigen sich wieder.
    Als wir aufwachen, duftet es nach Tee und süßem Reis. Der Hirte muss in aller Frühe Milch, Zucker und alle anderen Zutaten besorgt haben. Das Ritual sieht vor, dass man uns die erste Tasse anbietet, wir höflich ablehnen und die Tasse weiterreichen, woraufhin einer unserer Entführer ablehnt und die Tasse zurückgibt. Dann dürfen wir trinken. Der Tee schmeckt herrlich. Für einen Augenblick ist unsere aussichtslose Lage vergessen, die stinkende Feuchtigkeit, die Klamotten, die zum Trocknen über dem Feuer hängen, die bärtigen Gesichter unserer Entführer. Wir legen uns erschöpft und vor Kälte zitternd nieder und hoffen, dass es bald Abend wird, denn tagsüber dürfen wir nicht nach draußen gehen. Wir schlafen noch einmal ein. David reibt verstohlen über meine Arme.
    Es tut gut, sich in Schlaf fallen zu lassen und einfach zu vergessen. Vielleicht wacht man auf, und alles ist vorbei. Den ganzen Tag hatte ich mich gefühlt wie in einem Traum. Alles war so irreal: Daniela, die Achtundzwanzigjährige, die inmitten von Mudschahedin durch die Wüste läuft, sich auf den Boden wirft, sobald sich jemand nähert, und sich benimmt, als gehöre sie zu diesem Kämpferkommando. Aber wir haben die Nachricht im Radio gehört. Es ist wahr, keine Vision.
    3. BIS 6.   JULI
    Wir werden vier Tage in dieser Hütte verbringen. Vier Tage, in denen wir mit den Flöhen und der Langeweile kämpfen, in denen wir lernen, die linke Hand anstelle von Toilettenpapier zu benutzen und mit der rechten zu essen. Unsere Entführer achten streng darauf, die vorgeschriebenen fünf Gebete am Tag einzuhalten: beim ersten Lichtschimmer, zu Mittag, eineinhalb Stunden vor Sonnenuntergang, kurz nach Sonnenuntergang und dann noch einmal zwei Stunden später. Sie befinden sich auf feindlichem Territorium, fürchten, jeden Augenblick entdeckt oder angegriffen zu werden, aber sobald sie ihre rituelle Waschung vornehmen und ihre Tücher gen Mekka ausbreiten, scheint dies keine Rolle mehr zu spielen. Als wären sie dann allem entrückt, unverwundbar. Wir fragen uns unterdessen, wann es endlich weitergeht. In ein paar Stunden, heißt es, man warte auf ein Auto. Das Auto kommt nicht. Wir werden immer ungeduldiger. Wir wollen einfach nur weg, weiter. Wir denken, je schneller alles geht, desto schneller sind wir wieder in der Schweiz. Unsere Entführer vertrösten uns. »Bald«, heißt es, dann: »in ein paar Stunden«, »morgen«. Wir sind vollkommen ohnmächtig. Können nicht einmal gegen diese schwammigen Begriffe angehen.
    Ich denke immerzu an meine Eltern. Der Gedanke ist wie eine Obsession. Ich will sie endlich anrufen, ihnen sagen, dass ich entführt, aber am Leben bin. Immer sehe ich das Gesicht meiner Mutter vor mir, ihre gütigen Augen, meinen hoch aufgeschossenen Vater mit seiner herrischen Stimme, seinen unmissverständlichen Gesten, die Anweisungen geben, Probleme lösen. Mein Vater, der ein Haus nach dem anderen hochgezogen hat, mit seinem starken Arm. Aber sein Arm reicht nicht bis hierher.
    Ich weiß
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