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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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Einbruch der Dunkelheit verlassen wir die Hütte. Aber wo ist das Auto? Es seien zehn Minuten zu gehen. Wir nehmen die gewohnte Marschformation ein, nachdem wir genaue Anweisungen bekommen haben. Wir werden im Kofferraum eines Jeeps sitzen. Sollten wir an einem Checkpoint angehalten werden, müssen wir uns unter Decken verstecken. Bei einem etwaigen Schusswechsel dürfen wir uns nicht bewegen. Nur David würden sie im Notfall eine Waffe geben, damit er an ihrer Seite kämpfen kann, witzeln sie herum. »Aber sind wir dann den Kugeln nicht hoffnungslos ausgeliefert?«, frage ich David. »Der Kofferraum ist der sicherste Ort in einem Wagen. Der Schusswechsel wird sich auf den vorderen Teil der Fahrgastzelle konzentrieren.« Ich glaube ihm. Weil ich ihm glauben will.
    Wir sind kaum losgelaufen, als wieder Wetterleuchten einsetzt, die ersten Tropfen fallen. Es ist wie verhext. Vier Tage lang haben wir nutzlos gewartet, bei strahlendem Sonnenschein haben wir in der stickigen Hütte ausgeharrt, endlich steht das Auto bereit, und dann kommt wieder ein Unwetter. Ein Wolkenbruch geht nieder, und wir müssen in einer anderen Hütte Unterschlupf suchen. Das Farbenspiel am Himmel ist so schillernd, dass ich es anfangs für Explosionen an der afghanischen Grenze halte. »Das ist nur Wetterleuchten«, beruhigt mich David.
    Die kleine Strohhütte wirkt neu und sauber. Auf dem Dach frisches Stroh, auch der Boden ist zur Hälfte mit Stroh ausgelegt. In der Feuchtigkeit verbreitet es den vertrauten Duft nach Sommer in der Schweiz. Ich schließe die Augen und sage David, er solle es mir nachtun, es sei dann wie zu Hause.
    Rotchäppli hat ein Vogeljunges gefangen. Er trägt es in der Hemdbrust, holt es manchmal hervor und streichelt es vorsichtig. Junkie bildet mit den Händen ein Sprachrohr vor dem Mund und beginnt, wie der Muezzin vom Minarett zu rufen. Es hallt durch die kleine Hütte, hinaus in den Regen. Tief hängt der graue Himmel, Nebel zieht über das Geröll. Der Hirte versucht, draußen ein Feuer zu machen, um Tee zu kochen. Der Rauch zieht mir in die Nase, dazu der Duft des Strohs, Junkies getragene Rufe, die Luft wie ein Schweizer Sommergewitter, und neben mir die Panzerfaust … Die Entführer kämpfen mit der Anspannung, plötzlich spüren wir ihre Angst.
    Kaum verzieht sich das Gewitter, marschieren wir weiter, in die Dämmerung hinein. Aus den Minuten werden Stunden. Es geht über steile Gipfel, durch Moore und Wasserläufe. Bis wir das Licht einer Taschenlampe bemerken und vor uns einen reißenden, dunkelbraunen Fluss. Das Lichtsignal kommt vom anderen Ufer, wir müssen durch den Fluss waten. Junkie und David nehmen mich in die Mitte und geben mir jeweils die Hand. Sie zerren mich durch die Fluten, ich rutsche aus, halte mich an den beiden fest. Als wir das andere Ufer erreicht haben, stehen finster dreinblickende junge Männer vor uns. Sie betrachten uns abschätzend, die Ware, die sie geliefert bekommen. Mein Magen zieht sich zusammen. »Wir sterben noch diese Nacht«, sage ich zu David und beginne zu weinen. Zwei Pkw und ein großer schwarzer Jeep stehen da, die fremden Männer, es sind sieben oder acht, verhandeln mit unseren Entführern. Es ist klar, dass es um unser Schicksal, um den Preis für uns geht.
    Die Männer schlagen einander auf die Schulter, fuchteln mit den Waffen herum und lachen einander ins Gesicht. Provokation oder Zeichen von Freundschaft? Wie gut laufen die Verhandlungen? Wie gut laufen sie für uns?
    Schließlich hat man sich geeinigt. Wem gehören wir jetzt? »Unseren« Entführern oder den anderen? Der Konvoi macht sich bereit zum Aufbruch. Aber der große schwarze Jeep springt nicht an. Er muss angeschoben werden, die schmächtigen bärtigen Männer in ihren langen hemdartigen Umhängen stemmen sich gegen das Heck, der Jeep rollt und rutscht ein Stück, neigt sich zur Seite und hängt bedrohlich über der Böschung oberhalb des Flussbetts. Ein paar andere springen schreiend herbei, werfen die Waffen weg, lehnen sich gegen die Karosserie. Es ist wie auf der Höhenstraße im Himalaya, wo wir ein ums andere Mal aussteigen mussten, um die Räder aus dem Schlamm zu befreien, um Steine aus dem Weg zu räumen oder ein Umkippen des Fahrzeugs zu verhindern. Aber oben im Himalaya waren wir unter Abenteurern und einheimischen Händlern. Es herrschte eine fast fröhliche Solidarität, selbst in den heikelsten Situationen, wenn sich Felsblöcke auf den Serpentinen vor uns auftürmten und mit Ketten und
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