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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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Paschtu. Die Männer machen einen hektischen Eindruck, sie springen in den großen Geländewagen und wieder hinaus, wechseln die Plätze, hantieren mit den Waffen, zerren an uns herum und schreien uns Befehle zu. Falls die Männer einen Plan hatten, ist er gescheitert. Die Worte verschwimmen zu einem ungestalten Brei. Ich nehme nur noch den Waffenlauf wahr, der wieder in Davids Gesicht zeigt, ein Würgen in meinem Hals. Mein Kehlkopf drückt sich zusammen, löst einen Hustenreiz aus, aber ich kann nicht husten, ich kann nicht einmal atmen. Ich merke, dass jemand von hinten an meinem Schal zieht. Der Druck lässt ein wenig nach, als ich rückwärts über die Lehne rutsche und im Kofferraum lande. Ich muss mich in Embryonalstellung auf die Seite legen und sehe plötzlich Davids Gesicht vor mir. David. Er ist genauso zusammengerollt wie ich. Seine Augen machen mir keinen Mut. Sein Blick ist leer.
    Ein dicker Mann zwängt sich zu uns in den Kofferraum und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Heckklappe. Seine Schienbeine drücken sich in meine Flanke, sein massiger Leib ist über uns und nimmt uns die Luft. Unsere Hände werden mit einem Seil gefesselt, dann wird es dunkel, eine Decke verschluckt mich. Die Decke riecht nach Staub und verbranntem Gummi. Sie riecht nach Schweiß, nach Davids Angstschweiß.
    »David«, presse ich hervor, »was passiert?«
    Der Jeep jagt mit jaulendem Motor durchs Gelände. Er setzt über Buckel hinweg, die Reifen drehen durch, greifen plötzlich wieder in den Untergrund. Bei jedem Satz, den das Fahrwerk macht, knallt mein Kopf auf den Boden, und ich meine, unter der Decke zu ersticken.
    »Wir sind nicht mehr auf der Straße«, flüstere ich.
    »Sie bringen uns nach Afghanistan«, meint David.
    »Wozu?«
    Er antwortet nicht.
    »Sie erschießen uns?«, frage ich.
    »Zuerst fahren sie uns in die Wüste. Dann bringen sie uns um.«
    Ich kann nicht weinen, ich kann nicht schreien. Meine trockene Zunge klebt am Gaumen, und ich bekomme keine Luft mehr.
    »Es wird schnell gehen. Wir werden nicht leiden müssen«, meint David. »Ich liebe dich, vergiss das nicht.«
    »Ich liebe dich auch.«
    Ich denke an Liv und Fynn, die beiden Kinder unserer besten Freunde, mit denen ich so oft im Garten, nur wenige Meter vom Aare-Ufer entfernt, gespielt habe. Ich denke an ihre blonden Haare, die kleinen, schmalen Finger, die nach meiner Hand griffen, wenn ein Tier im Laub raschelte.
    Davids Hand dagegen ist kalt und steif, aber sie versucht, meinen Druck zu erwidern, mir Mut zu machen. Ich schluchze und flüstere: »David«, aber dann brüllt man uns an, wir sollen still sein.
    David, der hyperventiliert hat, versucht seine Atmung zu beruhigen, und ich flehe immer wieder: »Bitte, bitte, bringt uns nicht um.«
    Ich denke an meine Mutter, die heute, am Freitagnachmittag, mit ihrer Freundin ihren obligatorischen Trainingslauf macht, sich danach mit einem Glas lauwarmem Wasser ins Wohnzimmer setzt und hinausschaut über die blühenden Wiesen und die Maisfelder, auf denen die Julihitze steht. Sie freut sich, dass das Wochenende beginnt, dass sie ihre Rosen schneiden und etwas Besonderes kochen kann. Sie wird den Computer hochfahren, sich ins Internet einwählen und auf unserem Reiseblog nachsehen, wo wir gerade sind. Seit unserer Abreise aus Langnau habe ich fast täglich über unsere Etappen berichtet, ich habe unsere Koordinaten an unseren Freund Fabian gemailt, der unseren Standort aktualisierte. Sechsundsechzig Tage lang konnten unsere Angehörigen teilhaben an unserer Reise, konnten unsere Fotos, unsere exotischen Kleider, unsere Erlebnisse mitverfolgen. Heute wird meine Mama keinen neuen Eintrag finden, und wie jede Mutter wird sie einen feinen Stich in ihren Eingeweiden spüren. Die Angst, dass ihr Kind in Gefahr sein könnte.
    »Seid vorsichtig. Ich bin erst dann beruhigt, wenn du in unser Haus läufst und ich dich umarmen kann«, hat sie mir gestern in ihrer SMS geschrieben. Nun denke ich, sie wird mich nie wieder umarmen können.
    Plötzlich hält der Jeep, und wir können durch eine Ritze aus dem Kofferraum sehen. Die Landschaft ist menschenleer, keine Straße erkennbar. Ich habe das Gefühl, ins Leere zu fallen. Der Anführer spricht in sein Handy, dann geht die Fahrt weiter. Sie dauert Stunden, während sich die Hitze zu einem unerträglichen Druck auflädt, das Blut sich an den Fesseln staut. Manchmal hebt David mit der Nase einen Zipfel der Decke, manchmal fächelt ein Bewacher uns Luft zu. Man flößt
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