Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und jeder tötet, was er liebt

Und jeder tötet, was er liebt

Titel: Und jeder tötet, was er liebt
Autoren: C Westendorf
Vom Netzwerk:
gewichen, hatte etwas vom Buffet und ein Glas Sekt für sie geholt. Er gab ihr das Gefühl, seine Königin zu sein. Am Abend hatten sie ohne die anderen nebeneinander draußen auf dem Achterdeck gesessen und auf die Elbe geschaut, über ihnen der funkelnde Sternenhimmel. Er hatte einen Arm um sie gelegt, und Esther wollte, dass dieser Tag nie zu Ende gehen würde. So hatte es angefangen, damals. Esther war fünfundzwanzig Jahre alt und hatte noch nie mit einem Mann geschlafen, aber mit ihm zusammen war alles ganz leicht gewesen. Alfons hatte zärtliche Hände.
    Alfons hatte zärtliche Hände, aber Esther war nicht seine Königin. Er arbeitete zu viel. Wilfried hatte es genauso gemacht, vielleicht war das auch ganz in Ordnung. Esther wollte einen Menschen, für den sie das Wichtigste sein konnte. Esther wünschte sich ein Kind. Alfons hatte nichts dagegen, im Prinzip, aber nie kam der richtige Zeitpunkt. Zehn Jahre vergingen, Esther war fünfunddreißig und noch immer keine Mutter, als das große Nichts zurückkehrte. Wieder versuchte sie, es zu füllen, diesmal vor allem mit zu viel Wein.
    Kindheitsmuster. Esther schlug die erste Seite des Buches auf.
    – Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd. –
    Was für ein Unsinn. Das Vergangene war tot, musste tot sein. Wie hätte sie sonst weitermachen können? Sie hatte das Vergangene von sich abgetrennt, sich fremd gestellt, ihre Wurzeln verleugnet. Aber konnte das überhaupt gelingen? Ein Blick in den Spiegel zeigte Esther die Augen ihrer Mutter.
    Kindheitsmuster. Esther weinte.
    „Hast du der Alten ’nen Porno gegeben?“
    Hinter der Tür saßen die Entführer. Der Große schwieg, der Dunkle machte sich lustig über ihren Schmerz. Das gehässige Lachen des Dunklen dröhnte Esther in den Ohren. Wenn sie sich nicht schnell etwas einfallen ließ, würde sie ihrer Mutter wahrscheinlich bald sehr viel näher sein, als ihr lieb war. Sie ballte ihre Fäuste zusammen. Nein, Esther war kein Opfer. Sie würde um ihr Leben kämpfen, mit allen Mitteln verhindern, dass diese Fremden es ihr nahmen. Wenn es ihr gelingen würde, die Männer gegeneinander auszuspielen, hätte sie vielleicht eine Chance, am Leben zu bleiben. Esther straffte den Rücken, sie hatte einen Plan.
    „Ich müsste ganz dringend auf die Toilette, und der Eimer ist voll.“
    „Warum schwitzt du dein Problem nicht einfach aus?“
    „Ich bitte Sie.“
    „Ist ja gut.“
    Hinter der Tür wurde ein Stuhl gerückt.
    „Vergiss die Maske nicht, sonst kannst du was erleben.“
    Gehorsam zog sich Esther die schwarze Maske über den Kopf und war sofort wieder benebelt von deren intensivem Schweißgeruch. Schwere Schritte kamen näher, sie erkannte den Großen an seinem polternden Gang. Esther hatte die Männer noch nie gesehen, die Sinne durch ihre partielle Blindheit geschärft, hatte sie sich jedoch ein Bild von beiden gemacht. Sie unterschieden sich sehr voneinander, das konnte ich deutlich heraushören.
    Es gab den Großen, der sich schon öfter den Kopf an der Glühbirne angestoßen hatte, daher also mindestens ein Meter neunzig sein musste. Seine Bewegungen waren langsam und bedächtig. Der Große fesselte sie so, dass es nicht unnötig wehtat. Er war ihre Chance, hier lebend wieder herauszukommen. Der Dunkle war dagegen ein unangenehmerer Zeitgenosse. Es schien ihm Spaß zu machen, andere Menschen zu quälen. Deshalb nannte sie ihn auch insgeheim den Dunklen, weil er für sie eine dunkle Seele hatte. Beide sprachen mit osteuropäischem Akzent, aber der Dunkle war wesentlich wortgewandter und intelligenter.
    „Ich hoffe, du musst nur pinkeln, das Zeitungspapier ist nämlich aus.“
    Er stellte den leeren Eimer ab.
    „Einen Augenblick. Können Sie mir hoch helfen? Mir ist schwindelig.“
    Der Große beugte sich über sie. In dem Moment, in dem er sie am Arm hielt, drückte sie ganz fest seine Schulter.
    „Keine leichte Arbeit, die Sie hier tun. Ich hoffe, sie wird wenigstens gut bezahlt.“
    „Mach dir nicht unseren Kopf, Alte.“ Das war der Dunkle aus dem Nebenraum.
    „Ich habe sehr viel Geld“, flüsterte Esther. „Viel mehr, als Sie für diese miese Entführung bekommen. Ich biete Ihnen das Doppelte, wenn Sie mich gehen lassen.“
    „Ruhig.“
    „Denken Sie darüber nach! Warum nicht das Optimale herausholen?“
    Sie hörte, wie ihr Urinstrahl den Metalleimer traf, und hoffte, dass er sich abgewendet hatte. Esther konnte einiges
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher