Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und die Ratte lacht - Roman

Und die Ratte lacht - Roman

Titel: Und die Ratte lacht - Roman
Autoren: Persona Verlag
Vom Netzwerk:
Zeit tut sie so, als würde sie schreiben, doch in Wirklichkeit starrt sie den Engel auf dem Umschlag an. Seit seiner Entstehung vor fast fünfhundert Jahren hat das Gemälde es geschafft, jede mögliche Form der Vervielfältigung zu erleben. Doch die Enkelin hat keine Ahnung vom Maler und vom Original, sie fragt sich nur, ob sich das Heft als Folge der Geschichte verändert. Vielleicht ist das der Grund, weshalb sie nichts niederschreibt.
    *
    Du hast Glück gehabt, sagten sie zu der alten Frau.
    Auch ohne dass sie die Geschichte gehört hatten, stellten sie Vergleiche an. Sogar die alte Frau konnte nicht anders, als ihre Geschichte mit anderen Geschichten zu vergleichen, vor allem, da ununterbrochen neue Geschichten auftauchten. Aber sie hatte nie das Gefühl, Glück gehabt zu haben. Nach außen hin lächelte sie, machte ein dankbares Gesicht, wurde immer geschickter in der Kunst, sich zu verstellen. Ab da entstand ein Riss im Gerüst. Wie wahr sind sie, die Details ihrer Geschichte? Wie wahr müssen sie sein, damit sie für die Geschichte eine Rolle spielen? Schließlich ist es das erste Mal, dass die Geschichte erzählt wird, es gibt keine Vergleichsmöglichkeit.
    Die alte Frau möchte ihrer Enkelin sagen, dass die Wahrheit nicht vom Willen des Erzählenden abhängt.
    Obwohl die alte Frau nichts erfindet, ist sie außerordentlich vorsichtig. Sie wählt nur die Teile aus, ohne die die Geschichte zusammenbrechen würde, und sie wird von Verzweiflung gepackt, wenn Details durchsickern, die sie eigentlich nicht hatte erzählen wollen. Ihre lakonische Erzählweise stellt sie auf die unterste Stufe der Erzähler. Vielleicht gehört sie auch zu jenen, die am besten erzählen, wenn sie schweigen.
4
    Stefan, so hieß er. Der Bauer und die Bäuerin nannten ihn mit Kosenamen. Stefantschik. Stefaniu. Stefanel. Sie waren seine Eltern. Sie hörte, wie sie ihn über ihrem Kopf riefen. Sie nahm die Zuneigung in ihren Stimmen wahr. Mit ihren geschärften Sinnen erfasste sie alles. Er aß Schweinswurst, arbeitete auf dem Hof, amüsierte sich mit Katzen und Hunden. Sonntags ging er in seiner guten Kleidung zur Kirche. Ein Liebling des Dorfs. Es gab ein junges Mädchen, das ihm überallhin folgte. Eines Tages kam sie zum Eingang des Erdlochs.
    Komm, gehen wir hinunter, Stefan, du Lieber.
    Du darfst mich auch anfassen. Du darfst mit mir machen, was du willst.
    Nein!
    Das junge Mädchen fing vor Enttäuschung an zu weinen. Dieser Stefan stieß sie vom Eingang zum Erdloch weg. Sie fiel hin.
    Sie hieß Janka. Ausgerechnet der Stachel dieses Namens blitzt auf, dabei ist er so nebensächlich.
    Obwohl die alte Frau versucht, die Geschichte so langsam wie möglich aufzurollen, weiß sie, dass sie sich schnell dem Punkt nähert, von dem aus es keine Rückkehr gibt.
    Stefan, was machst du da unten?
    Stefan, wo bist du?
    Stefan?
    Die Bäuerin, seine Mutter, begnügt sich mit Rufen. Bald wird er heiraten und Kinder bekommen. Es wird einen Erben geben, für den Hof und für alles, was dazu gehört.
    *
    Jüdische Haut, so zart, so glatt.
    Jüdische Unterhosen.
    Wage es ja nicht, deinen jüdischen Mund aufzureißen, sonst bringe ich dich um.
    Wie soll sie das jetzt erzählen?
    So oder so, es wird mit dem Tod enden.
    *
    Gebildet unten in der Erde. Das ist der Punkt, an dem die Geschichte zusammenbricht.
    *
    Vielleicht hören wir auf?
    Die letzte Möglichkeit.
    Man muss nicht weitermachen.
    Hören wir auf.
    Wer sagt, dass man die ganze Geschichte erzählen muss? Wer behauptet, dass die ganze Geschichte ans Licht kommen muss? Vielleicht sind gerade die begrabenen Geschichten die vollkommensten.
    Die alte Frau möchte sie am liebsten wieder begraben.
    Aber die Enkelin braucht diese Geschichte inzwischen.
    *
    Was hast du zwischen deinen Beinen?
    Wage ja nicht, zu weinen, du Miststück.
    Ich werde dir schon zeigen, was das ist.
    *
    Sie versinkt in ihrem eigenen Urin, in Erbrochenem, in Kot, in ihrem eigenen Blut. Sie hat gelernt, die Tränen zu unterdrücken. Im Gegensatz zu anderen Körperausscheidungen ist Weinen verräterisch. Von der vollkommenen Beherrschung ihres Körpers hängt ihr Leben ab. Eine scharfe Erkenntnis für eine Fünfjährige. Bis heute niest und hustet sie nicht.
    Das Blut lässt sich nicht beherrschen.
    Die Mutter im Himmel weiß nicht, was man den Töchtern unter der Erde zufügt. Wüsste sie es, würde sie sicher herunterkommen, und wenn sie nicht herunterkommt, dann beweist das, dass sie es nicht wissen will.
    Ave Maria von den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher