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Und die Ratte lacht - Roman

Und die Ratte lacht - Roman

Titel: Und die Ratte lacht - Roman
Autoren: Persona Verlag
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Läusen.
    Ave Maria von den Schlangen.
    Ave Maria von den Würmern.
    Ave Maria von Stefan.
    Maria ist genau wie ihre Mutter – sie dreht ihr den Rücken zu.
    *
    Ich stecke ihn dir in den Mund.
    Schluck´s.
    Und wieder, schluck´s.
    Schluck´s immer.
    *
    Ein menschlicher Block in der Dunkelheit, sie sparte sogar ihren Atem. An den Tagen danach, genauer gesagt, in den Nächten, fing sie an, die lateinischen Wörter zu murmeln. Ave Maria, verwandle auch mich in eine Ratte. Das glücklichste Geschöpf der Welt.
    *
    Sie hatte immer gehofft, dass das Alter sie ruhig machen würde, vor allem, dass es den Zorn abdämpfen würde. Die Zeit hat ihr Versprechen nicht gehalten, und der Zorn ist so scharf wie immer. In seiner Kraft nur den Sehnsüchten vergleichbar. Jeden Tag, Stunde um Stunde, dreht ihr die Mutter den Rücken zu, sogar jetzt, da sie selbst vierzig Jahre älter ist, als ihre Mutter damals war.
    Hätte die alte Frau die Geschichte früher erzählt, hätte sie es vielleicht geschafft, den Zorn etwas zu besänftigen. Viele Male wollte sie ihrer Mutter und ihrem Vater verzeihen, aber der Zorn ließ es nicht zu, und sogar ihren Schuldgefühlen gelang es nicht, ihm den Stachel zu nehmen.
    Der Zorn ist es, der die Geschichte aus der Bahn lenkt. Wie gestammelt und ausweichend hört sich die Geschichte in ihren eigenen Ohren an, wenn sie sich von ihr distanziert, wenn sie sich ihrem Griff entzieht. Und während die alte Frau sie hilflos beobachtet, wirft ihr die Geschichte vor, beschädigt zu sein, weigert sich, ihr länger zu gehören. Aber die alte Frau – ernüchtert und vielleicht auch tapfer – lässt sie nicht kampflos aus der Dunkelheit treten. Der Zorn brodelt, denn ohne ihn würde sie aufhören zu existieren.
    Ihre Enkelin ist zwar zu jung, aber schon in einem Alter, in dem sie fähig ist, das Wichtigste zu entschlüsseln. Obwohl sie bereit ist, die Geschichte so zu akzeptieren, wie sie ist, bleiben die Seiten ihres Heftes leer.
    Die alte Frau feiert einen kleinen Sieg. Die Geschichte verfehlt also ihr Ziel.
    Denn größer als ihr Verlangen, die Geschichte zu erzählen, ist ihr Wunsch, es nicht zu tun.
    *
    Nacht um Nacht oder Tag um Tag, in der Hülle ihres erschöpften Körpers, vernimmt das Mädchen, das gebildet wurde unten in der Erde, die Schritte, die die Leiter heruntersteigen und näherkommen, und auch wenn sie nicht zu hören sind – nur vorübergehend –, ist das Mädchen angespannt, weiß mit allen Sinnen, dass dieser Stefan kommen wird.
    Plötzlich zieht sich die Geschichte in ihr eigenes Inneres zurück – an einen Ort, an dem es wüst war und leer und finster auf der Tiefe.
    Und das ist keine Geschichte aus der Bibel.
    *
    Auch wenn wir annehmen, dass diese Geschichte nicht erfunden ist, muss man doch davon ausgehen, dass die Zeit sie verzerrt hat.
    Die Zeit in Einheiten zu zerteilen und neu zu ordnen ist für ein Kind nicht leicht. Eine Nacht kann zur Ewigkeit werden, und was als Vergangenheit galt, entpuppt sich als Gegenwart. Ausgerechnet jetzt, da das Alter an ihr nagt – es ist nicht über sie hergefallen, das muss man betonen –, empfindet die alte Frau die Krümmung der Zeitachse viel tiefer. Die Bestandteile der Geschichte haben sich vermischt, deshalb besteht die Gefahr, dass die Dunkelheit und dieser Stefan nur einen kleinen Raum in der Geschichte einnehmen, ganz im Gegensatz zu ihren Dimensionen in der Wirklichkeit.
    Dunkelheit. Bäuerin. Ratte. Ave Maria. Stefan. Dunkelheit. Ratte. Stefan. Ave Maria.
    Ave Maria.
    Dunkelheit.
    Stefan.
    Dunkelheit.
    *
    Mach deine jüdischen Beine auseinander.
    Weiter.
    Noch weiter.
    Ein jüdisches Loch.
    Das ist es, was du bist.
    *
    Während sie auf ihre Enkelin wartete, erbrach sich die alte Frau. Das ist nur wegen der Hitze, rechtfertigte sie sich. Tel Aviv betet das Licht an. In dieser Stadt ist Licht die Hauptsache. Ihre Eingeweide kochten. Die Geschichte hatte sich noch nicht auf den Weg gemacht, da bricht sie schon aus ihrem Körper heraus.
    Ihr Fleisch ist einfach zu weich. Das Alter, da kann man nichts machen. Und das, obwohl sie sich geschworen hat, nie zu wachsen.
    Ich war alt, bevor ich jung gewesen bin, sagt sie zu ihrer Enkelin, und bittet sie, das nicht zu schreiben. Wenn ein alter Mensch das Kind in sich verletzt, vergeudet er die Quellen, die ihm geblieben sind.
    Das Nichterinnern, davon hätte sie erzählen müssen.
    Sogar früher hätte sie dem Mann, der die Leiter herunterkam, kein Gesicht geben können, keine Augen, keine
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