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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman
Autoren: Tom Winter
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freundlich, wenn auch nicht mehr halb so freundlich wie bei Carols früheren Besuchen. Sie wirft ihr misstrauische Blicke zu, während sie gereizt auf ihre Tastatur einhämmert.
    »Sagen Sie bloß, diesmal fliegen Sie wirklich?« Sie wirft einen Seitenblick auf die Kunden am Nebentisch. Offenbar hat sie Lust, sich ein bisschen in Szene zu setzen. »Natürlich, ich kann Ihnen gerne Ihr Geld abnehmen, aber wozu, wenn Sie dann doch wieder stornieren? Sie buchen, Sie stornieren, Sie buchen, Sie …«
    »Mein Mann hat Krebs.«
    Das erklärt zwar nicht, weshalb sie allein verreisen will, aber dass es die Wahrheit ist, steht ihr ins Gesicht geschrieben.
    Betretenes Kopfnicken, verlegene Blicke in der Runde. Sogar Carols Gegenüber bemüht sich um einen pietätvolleren Anschlag auf der Tastatur, soweit ihre alles andere als dezenten, rot lackierten langen Fingernägel das zulassen.
    Und die ganze Zeit geht Carol immer der gleiche Gedanke durch den Kopf. Ich bin ein schlechter Mensch. So viele Jahre hat sie auf den richtigen Augenblick gewartet, Bob zu verlassen, nur um zuletzt den verkehrtesten zu wählen. Aber das Richtige zu tun, dafür ist es nun zu spät. Es gibt kein richtig mehr; alles ist nur noch eine Frage des Grades von Verletzung, Selbstsucht und Schmerz.
    Auf dem Heimweg legt sie einen Zwischenstopp im Supermarkt ein. Alles, was sie einkauft, ist für Bob. Es ist eine schwache Geste der Wiedergutmachung, aber irgendwie auch ein Trost. Seine Lieblingsleckereien werden ihm nicht so schnell ausgehen, wenn sie fort ist.
    Bob hockt so vertieft vor seinem World of Warcraft , dass er für ein normales zwischenmenschliches Miteinander nicht zu gebrauchen ist. Selbst als er eine kurze Futterpause in der Küche einlegt, scheint es ihm kaum aufzufallen, dass Carol sich nur für ihn mit fünfzehn Tüten Proviant abgeschleppt hat.
    »Wow, das ist mein Glückstag«, murmelt er immerhin, während er eine Packung mit glasierten Rosinenschnecken aufreißt. Er klemmt sich eine zwischen die Zähne, weil er die Hände für zwei Coladosen und eine Packung Käsescheiben braucht. Dann wandert er zurück ins Wohnzimmer.
    Dieses Wechselspiel von Junkfood und Online-Gedaddel geht den ganzen Abend weiter, bis er um halb elf so erledigt ist, dass er nicht mal mehr auf den Bildschirm starren kann.
    »Willst du nicht ins Bett gehen?«, fragt sie.
    »Vielleicht hast du recht. Kommst du nach?«
    »Später. Ich möchte noch ein bisschen meine Gedanken ordnen.«
    Nachdem Bob aus dem Zimmer geschlurft ist, sitzt sie noch eine Weile reglos da und wartet, bis sie ganz sicher ist, dass er sich zur Ruhe begeben hat. Dann schaltet sie still und heimlich ihren Computer ein …
    Richards Foto wird ihm nicht gerecht. Seine Wahrhaftigkeit, seine Lebendigkeit kann keine Kamera festhalten. Alles, was ihr von ihm geblieben ist, ist sein Lächeln, in aller Eile auf dem Rücksitz eines Taxis eingefangen, als ihr gemeinsames Glück noch unveränderlich schien.
    Immer näher zoomt Carol das Gesicht heran, das sie einst gekannt, geliebt und geküsst hat, das Gesicht, nach dem sie sich verzehrt, bis sein rechtes Auge den ganzen Bildschirm ausfüllt, das verpixelte, verzerrte Abbild ihres Verlusts.
    Obwohl sie nicht weiß, wie sie ausdrücken soll, was gesagt werden muss – was zu viele Jahre ungesagt geblieben ist –, greift sie zum Stift.

61
    Es ist schön, wieder da zu sein, und es macht auch nichts, dass es ein kalter, grauer Tag ist. Das ist das Gute an Friedhöfen. Sie brauchen kein schönes Wetter, um ihre Wirkung zu tun. Irgendwie unterstreicht es sogar noch ihre Verbundenheit mit Richard, dass die Kälte ihr durch die Schuhsohlen kriecht und ihre Füße langsam taub werden, während sie an seinem Grab steht.
    Sie war schon lange nicht mehr hier. Früher ist sie oft gekommen, aber das hat auch nicht geholfen, ihr nicht und ihm erst recht nicht. Man kann nicht ewig mit einem Grabstein hadern; irgendwann muss man einsehen, dass es zu spät ist.
    Sie kann sich noch gut an den Tag erinnern, an dem sie die Nachricht bekam, erst Wochen nachdem es passiert war. Die Nachricht, dass der Mann, den sie liebte, gestorben war. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass er krank war, und hatte keine Gelegenheit, sich von ihm zu verabschieden.
    Helen war damals ihre Rettung. Nachdem sie lange genug mit angesehen hatte, wie Carol, eine junge Mutter in den Zwanzigern, schier vor Trauer verging, hatte Helen sie schließlich davon überzeugt loszulassen.
    Doch in Wahrheit hat sie
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