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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman
Autoren: Tom Winter
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wunderhübsches Tier. Sie macht Ihnen alle Ehre.«
    Geschäftig kramt sie einen Schlüsselbund aus ihrer Tasche. »Ihre Tür ist auch schon repariert.«
    »Ist was gestohlen worden?«
    »So was kommt in meinem Revier nicht vor, Albert!« Wieder strahlt sie ihn an. »Wenn’s Ihnen recht ist, behalte ich die Schlüssel noch, bis Sie wieder auf dem Damm sind … ach Gott, warum weinen Sie denn?«
    »Ich dachte, die stecken mich in ein Heim. Und vermieten meine Wohnung an Rumänen.«
    »Nur über meine dicke fette Leiche. Lassen Sie sich von dem Lächeln nicht täuschen, Albert. Ich kann ein ganzes Schaf auf einen Happen fressen, mit Haut und Haar.«
    Albert lächelt unter Tränen.
    »Meine Güte, was für schöne Zähne!«
    »Und alle echt«, entgegnet er errötend.
    »Na sehen Sie, Albert, Sie sind genau wie ich. Sie sind ein Phänomen. Zusammen sind wir unschlagbar.«

60
    Bobs Krankenhaus erinnert nicht mehr an ein Hotel. Was sicher auch daran liegt, dass Carol keine bloße Besucherin mehr ist und Bob nicht mehr nur der mit einem Hoden weniger.
    Sie hat schon fast vergessen, wie grell das Licht hier ist, wie steril die Atmosphäre, wie geräuschlos die Schwestern auf ihren federnden Sohlen durch die Gänge huschen. Auf dem Weg zu Bobs Einzelzimmer sehen sie eine ältere Frau leise weinen, und bei aller vornehmen Zurückhaltung ist ihre Verzweiflung deutlich spürbar. Doch schon schließt sich behutsam eine Tür, und sie ist ihren Blicken wieder entzogen.
    Nach einer längeren Wartezeit, in der Bob und Carol stumm ihre neue Umgebung in Augenschein nehmen – einen Ort, der mit seinen abwaschbaren Oberflächen verrät, dass es hier mit jeder Selbstbestimmung ein Ende hat –, kommt eine Schwester herein, und schon läuft das volle Programm: die Nadel, der Stich in die Vene und schließlich der Infusionsbeutel, aus dem gleichmäßig die chemischen Substanzen tröpfeln – das Signal, dass der Kampf jetzt ernsthaft begonnen hat.
    Während der Sitzung blättert Bob in alten GQ -Magazinen und mustert diskret die unvermeidlichen Nacktmodelle. Carol hat damit gerechnet, dass ihm das Ganze mehr zusetzen würde, dass er sie brauchen würde wie ein Kind seine Mutter – ist sie nicht deshalb mitgekommen, ist sie nicht deshalb all die Jahre bei ihm geblieben? Je lethargischer er sich verhält, desto mehr kocht es in ihr. Sie möchte etwas kaputt schmeißen, einen Anfall kriegen, schreiend durch die Flure toben, bis man sie ruhigstellt und sie den Schmerz nicht mehr spürt.
    All die Jahre hat sie Bob zum Teufel gewünscht, nun will sie ihn retten und kann es nicht. Unaufhaltsam rast das Flugzeug, in das sie nie hätte einsteigen dürfen, auf den Erdboden zu.
    Kurz bevor ihr tatsächlich die Sicherung durchbrennt, ist alles vorbei. Eine Krankenschwester begleitet sie lächelnd zum Ausgang und winkt ihnen nach wie alten Freunden, die auf ein Tässchen Tee und einen kleinen Plausch vorbeigeschaut haben.
    Zu Hause verkriecht Carol sich in der Küche. Wenn Bob hereinkommt, spielt sie ihm die geschäftige Hausfrau vor, doch ansonsten starrt sie nur dumpf und blicklos zu Boden.
    Aus Sorge, im Lauf der Chemotherapie den Appetit zu verlieren, hat Bob angefangen, sich ein Fettpolster anzufressen, wie ein Tier vor dem Winterschlaf. Bei seinem dritten Verpflegungsgang in die Küche versorgt er sich mit letzten Resten, greift sich hier einen altbackenen Donut, dort eine Scheibe Schinken.
    Am Fenster bleibt er stehen. »Nichts hält ewig.«
    »Wie bitte?«
    Er zeigt auf die Fahne der Nachbarn. Ausgefranst peitscht sie im Wind hin und her, die Ränder nicht viel mehr als rote, weiße und blaue Fetzen.
    »Ich muss mal kurz weg«, sagt sie.
    »Soll ich mitkommen?«
    »Ach was, ich geh nur schnell einkaufen.« Das ist die sicherste Ausrede. Bob vorzuschlagen, sie zum Einkaufen zu begleiten, ist genauso, wie einem Vampir Knoblauch anzubieten. Nachdem ihm inzwischen jeder Augenblick kostbar ist, wird er wohl nie wieder einen Laden betreten wollen.
    »Na, ich schätze, dafür brauchst du mich nicht.« Er reißt eine Coladose auf und wandert ins Wohnzimmer. »Dann setze ich mich noch ein bisschen an den Computer.«
    Mit klopfendem Herzen horcht sie auf seine Schritte.
    Sie hat gerade einen Krebskranken belogen! Das macht sie zwar schon lange, doch heute war es das erste Mal, seit sie über seine Krankheit Bescheid weiß. Es ist der Beginn eines Verrats, den sie sicher bereuen wird, aber nicht mehr aufhalten kann.
    Die Frau im Reisebüro ist
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