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Uferwechsel

Uferwechsel

Titel: Uferwechsel
Autoren: S Mann
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Bedarfs aber häufig anderweitig benutzt wurde, sei es für eines meiner Inspirationsnickerchen zwischendurch. Oder als rettende Sitzgelegenheit, wenn jemandem das Geradestehen während einem der Apéros schwerfiel, die ich zusammen mit meinen besten Freunden José und Miranda – regelmäßiger als vernünftig gewesen wäre – veranstaltete. Der niedrige Beistelltisch davor war mit Illustrierten und Magazinen übersät, und an der Wand gegenüber befand sich eine mit orientalischen Schnitzereien verzierte Truhe, auf der eine rosafarbene Ganesha-Statue thronte, ein Abbild des bekannten hinduistischen Gottes mit dem Elefantenkopf.
    Diesen fixierte ich jetzt, während ich grübelte, was dem Jungen widerfahren sein mochte. Es war vor allem die Art, wie er wahrscheinlich ums Leben gekommen war, die mich bestürzte. Die Gewaltbereitschaft hatte gerade in jugendlichen Kreisen in den letzten Jahren erschreckende Ausmaße angenommen. Immer wieder berichteten die Zeitungen darüber, dass Passanten auf Bahnhöfen, vor Klubs oder sogar in Fußgängerzonen Opfer von brutalen Übergriffen wurden.
    Auch bei meinem letzten größeren Fall war ein junger Mann von einer Gang mitleidlos ins Koma geprügelt worden. In der Zwischenzeit hatte er sich glücklicherweise erholt und besuchte die Hotelfachschule. Doch noch immer wurde Fernando medikamentös behandelt, ihn plagten Albträume und er litt unter Angstzuständen, wie er mir bei unserem letzten Aufeinandertreffen an der Langstrasse verraten hatte.
    Ich erhob mich und schaute auf die Straße hinunter. Das Quartier wirkte verlassen. Schmutziger Schnee häufte sich an den Rändern der Gehsteige, in den Wohnungen gegenüber waren die rauchvergilbten Gardinen zugezogen, einzig im Frisiersalon weiter vorn brannte Licht. Zwei Kondensstreifen kreuzten sich am Himmel über dem Stadtteil Höngg. Der Verkehr schleppte sich im Schritttempo über die Langstrasse und das Leuchtschild der Lambada Bar vorn an der Kreuzung schimmerte mattrot. Die zwei in dicke Jacken vermummten Männer, die darunter standen, sahen mehr gelangweilt als verschlagen aus, beiden hing eine glimmende Kippe im Mundwinkel.
    Statt ebenfalls zur Zigarette zu greifen, schob ich mir einen Wild Cherry – Kaugummi in den Mund und malmte angewidert.
    José war an der Josefstrasse ausgestiegen, wo er in einer Mansarde unter dem Dach wohnte. Noch jedenfalls, solange es Fiona nicht gelang, ihre Wünsche durchzusetzen. Was wohl nur eine Frage der Zeit war. Ich nahm an, dass sich mein Freund gerade einen reißerischen Bericht über den Leichenfund aus den Fingern sog.
    Das malträtierte Gesicht des Jungen im Schnee ließ mich nicht los, noch immer sah ich seine unnatürlich verrenkten Glieder vor mir.
    Die Einsamkeit, die von dem leblosen Körper ausgegangen war, konnte ich mir vernunftmäßig nicht erklären. Trotzdem hatte ich sie überdeutlich gespürt. Ein junger Mensch, der von allen im Stich gelassen worden war. Der allein auf sich gestellt dem Tod ins Auge blicken musste. Was für eine schreckliche und gleichzeitig unsäglich traurige Art zu sterben.
    Ich war sonst nicht so empfänglich für derartige Dinge, dazu war ich zu rational veranlagt, zu sarkastisch auch, doch in diesem Fall war es anders. Vielleicht lag es auch am Alter und ich wurde mit meinen vierunddreißig Jahren allmählich sentimental.
    Ich grübelte erneut über den abgebrochenen Ast nach, der mir über der Fundstelle der Leiche aufgefallen war. Es konnte gut sein, dass er überhaupt nichts mit dem Tod des Jungen zu tun hatte, doch in der Zwischenzeit war ich zu lang im Geschäft, um noch an Zufälle zu glauben. Ich setzte mich wieder hinter meinen Schreibtisch und schenkte mir zur Unterstützung meiner Hirntätigkeit ein Glas Amrut ein. Ausnahmsweise trank ich ihn ohne Eis, mir war immer noch kalt von unserem morgendlichen Ausflug.
    Der Ast war erst kürzlich abgebrochen, das noch helle Holz sprach eindeutig dafür. Auch an einigen benachbarten Bäumen hatten Zweigspitzen gefehlt. Was den Gedanken ausschloss, der mir als Erstes durch den Kopf geschossen war – nämlich dass sich der Mann erhängt hatte und das trockene Holz seinem Gewicht nicht hatte standhalten können. Ebenso unwahrscheinlich war, dass es ein Fremder getan hatte. In beiden Fällen hätte man selbst auf Josés mittelmäßiger Aufnahme Einschnitte des Strangs an seinem Hals sehen müssen. Diese Theorie konnte ich also getrost verwerfen.
    Ohnehin hätte das auch nicht die schweren
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