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Uferwechsel

Uferwechsel

Titel: Uferwechsel
Autoren: S Mann
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paar Schritte bis zum oberen Ende des abgesperrten Bereichs. Unvermittelt hielt der Vogel inne und schien zu lauschen. Dann duckte er sich leicht, spreizte die Flügel und erhob sich beinahe geräuschlos in die Luft. Pulvriger Schnee stob auf, und der Zweig, auf dem er gesessen hatte, wippte noch einen Atemzug lang nach. Ich stutzte und kniff die Augen zusammen. Die Bewegungen des Eichelhähers hatten große Teile des Geästs ringsherum vom Schnee befreit, und dabei enthüllt, was zuvor nicht sichtbar gewesen war: Die Spitze des längsten Astes war abgebrochen, die längliche, vorn zersplitterte Bruchstelle hob sich hell gegen die dunkle Rinde ab. Mein Blick wanderte nach unten, wo das weiße Zelt stand. Der Ast befand sich genau über dem Fundort der Leiche.
    » Nada! Die haben rein gar nichts!« Verärgert schwenkte José die Thermoskanne in der Luft, bevor er Kaffee in einen Pappbecher goss und ihn mir unter die Nase hielt.
    »Sekunde!« Ich klammerte mich gerade mit beiden Händen an das Steuer meines Käfers, der wegen der schneebedeckten Überlandstraße in den Kurven bedenklich schlingerte. Erst als wir sicher in die Forchstrasse eingebogen waren und kurz danach Zumikon hinter uns gelassen hatten, nahm ich den Becher entgegen. Die dunkle Brühe war nur noch lauwarm, trotzdem konnte ich nach dem ersten Schluck förmlich spüren, wie die Restwärme durch meinen Körper schoss und ihn allmählich wieder auftaute. Der Alkohol kümmerte sich derweil um den gemütlichen Teil und ließ mich entspannt in den Sitz zurücksinken, während Josés fortwährende Schimpferei an mir abperlte.
    » Cabron! Ein Gewaltverbrechen! Das ist alles! Mehr Angaben konnte dieser Tobler nicht machen. So ein Gillipollas! Das war ja offensichtlich! Dafür hätten wir uns nicht stundenlang den Arsch abfrieren müssen!«
    Ich wusste aus Erfahrung, dass es bei José in solchen Situationen länger dauern konnte, bis Puls und Ausdrucksweise wieder auf gesellschaftsfähiges Niveau absanken, denn wir hatten schon zusammen die Schule besucht. Zudem war er gebürtiger Spanier. Zwar grundsätzlich ein friedfertiger und eher träger Mensch, aber wenn er sich aufregte, vergaß er schnell seine gute Kinderstube.
    Wobei er seit einiger Zeit ohnehin gereizt drauf war. Der Grund dafür musste seine Freundin Fiona sein. Denn diese drängte darauf, mit ihm zusammenzuziehen, wie er mir kürzlich mit banger Miene und schon nach einer besorgniserregend niedrigen Anzahl Drinks anvertraut hatte. Seither versuchte er mit allen Tricks, den Umzug hinauszuzögern, nachdem er Fiona noch im vergangenen Jahr auf der Stelle hatte heiraten wollen. Was wiederum sie abgelehnt hatte.
    In Gedanken daran seufzte ich leise, während wir an säu berlich aufgereihten Einfamilienhäuschen vorbeifuhren. Links erhob sich der Zollikerberg, mehr ein bewaldeter Hügel als wirklich ein Berg. José kritzelte mit griesgrämiger Miene ein paar Stichworte in eine abgegriffene Kladde und schimpfte dazu halblaut vor sich hin.
    Die Nacht nach Fionas Nein hatten José und ich auf meinem Sofa verbracht. Sie war gezeichnet gewesen von einer beachtlichen Menge Amrut , meinem indischen Lieblingswhisky, und einem schier endlosen Monolog Josés, an den ich mich nur noch bruchstückhaft erinnern konnte. Nicht zuletzt weil ich wohl phasenweise eingenickt war, die etwas einseitige Thematik vertrug sich schlecht mit meiner alkoholbedingt eingeschränkten Aufmerksamkeit. José schien das in seinem Eifer jedoch nicht bemerkt zu haben und hatte sich am nächsten Morgen überschwänglich fürs Zuhören bedankt.
    Aber dazu sind Freunde ja da.
    » Joder! Was soll ich jetzt bloß schreiben?« José hatte sich noch nicht ganz beruhigt, immerhin unterbrach er jetzt sein Gemotze, um einen Becher Kaffee hinunterzustürzen.
    »Dir wird schon was einfallen«, brummte ich beschwichtigend. »Tut es doch immer. Das ist doch das wahre Talent von euch Gratisblatt-Journalisten: Ihr macht aus nichts … mehr.« Ich grinste schief.
    »Warum sagst du nicht gleich aus Mücken Enten!« José schob beleidigt die Unterlippe vor.
    »Diesmal hoffentlich nicht. Und ein paar Informationen sind ja doch zusammengekommen«, bemühte ich mich hastig, ihn zu besänftigen. »Das reicht sicher für einen weiteren fesselnden Artikel von dir.«
    »Schleimer!« José guckte mich mit gespielter Schroffheit an, aber ich sah, dass er geschmeichelt war. Ziel erreicht. Wir kannten uns mittlerweile so gut, dass jeder wusste, was im anderen vorging,
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