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Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen

Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen

Titel: Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen
Autoren: Inge Deutschkron
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Inge“, sagte meine Mutter eines Tages im April 1933 zu mir. Ich hatte keine Ahnung, was sie mir da sagte. Ich war mit Weihnachtsbaum und Ostereiern aufgewachsen und wußte nichts über Judentum oder jüdische Religion. Es gab in unserem Haus weder Kultgegenstände, noch hingen meine Eltern an Traditionen jüdischen Ursprungs. Ich wußte noch nicht einmal, was eine Religion ist, denn ich hatte eine weltliche Schule besucht, in der dieses Fach nicht gelehrt wurde. Doch an jenem Tag wollte ich meinen Eltern keine weiteren Fragen stellen, denn ich spürte, daß sie andere Sorgen hatten. Ein Satz indes, den meine Mutter dieser für mich so überraschenden Eröffnung hinzufügte, blieb in meinem Gedächtnis haften. Ja, er wurde zum Leitmotiv meines Lebens: „Auch wenn du jetzt zu einer Minderheit gehörst, laß’ dir nichts gefallen. Wehr dich, wenn du angegriffen wirst.“ Schließlich sei ich auch als Jüdin anderen Kindern ebenbürtig.
    „Wir sind Deutsche“, betonte mein Vater immer wieder, auch wenn die Nazis Juden nicht als solche anerkennen wollten. „Deutsch ist unsere Sprache, deutsch unsere Kultur!“ Und er wies weiter darauf hin, daß unsere Familie nachweislich seit vielen Generationen in Deutschland ansässig sei und er und seine zwei Brüder im Ersten Weltkrieg als Freiwillige in der deutschen Armee gekämpft hätten. Darum gab es für uns auch keinen Grund auszuwandern. Meine Eltern hielten es aber für richtiger, Manuskripte meines Vaters, Schriften, ja sogar Bücher mit sozialistischem Inhalt zu verbrennen oder in den Hintergrund des Bücherschranks zu verbannen. Verhaftungen von Gesinnungsgenossen verstörten sie natürlich. Sie beschlossen dann auch, den 1. April 1933, den Tag des Boykotts jüdischer Geschäfte, nicht zu Hause zu verbringen. Mit den Worten, dies sei nur so eine Vorsichtsmaßnahme, spielten meine Eltern den Besuch bei Tante und Onkel Hannes in Spandau mir gegenüber herunter. Ich glaubte ihnen aufs Wort. Sie hatten mich noch nie belogen.
    Kurz darauf wurde mein Vater seiner politischen Tätigkeit wegen aus dem Staatsdienst entlassen. Das traf ihn ins Mark. Aber dennoch blieb er zuversichtlich. Und er war nicht der einzige. Höchstens drei Monate würde dieser Hitler an der Macht bleiben. So schwadronierten die Männer, die wie mein Vater wegen ihrer führenden Rollen in demokratischen Parteien oder Gewerkschaften arbeitslos geworden waren. Es sei doch nicht denkbar, daß das deutsche Volk diesen Verbrecher auf Dauer dulden würde. Mit dieser Prognose endeten die meisten ihrer Diskussionen zur Lage. Sie saßen in jenen Frühlingstagen des Jahres 1933 in Schrebergärten untätig herum. Sie hatten längst resigniert. Demokratische Einrichtungen waren geschlossen, führende Funktionäre ihrer Organisationen verhaftet und in Konzentrationslager eingewiesen worden. Berichte über deren grausame Behandlung ließen Wagemut nicht zu.
    Ein Einschnitt in meinem Leben war der Übergang in die höhere Schule, der gerade am 1. April 1933 fällig war. Außer mir besuchten noch einige jüdische Mädchen die gleiche Klasse. Das wußte ich nur vom gemeinsamen Religionsunterricht, der nun Pflicht geworden war. Gelegentlich fühlte ich mich verpflichtet, für sie einzutreten. Zwei von ihnen waren kleiner und schwächer als die anderen und waren häufig Ziel von Spott und Demütigungen. Da in der weltlichen Schule – revolutionär für diese Zeit – Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet worden waren, hatte ich gelernt, wie man sich wirkungsvoll zur Wehr setzt. Die Angreifer ließen schnell von mir ab, wenn ich mit meinen Fäusten drohte. Der Rat meiner Mutter, mir nichts gefallen zu lassen, bewährte sich.
    Die Nürnberger Rassegesetze von 1935, die es u. a. Juden und Nichtjuden verboten zu heiraten, führten die Schulbehörde dazu, jüdischen Schülern die Teilnahme an Ausflügen, am Schwimmunterricht, am Besuch von Landschulheimen zu untersagen. Umkleidekabinen wurden getrennt – für jüdische und nichtjüdische Schüler. Mein Vater fand diese Art der Diskriminierung nicht gut für ein Kind und meldete mich in der Jüdischen Schule in der Großen Hamburger Straße an. Ich weiß noch, wie mich diese Schule verwirrte. Tausende jüdischer Schüler strömten nun in die wenigen jüdischen Schulen der Stadt. Und so war es nicht zu verwundern, daß wir oft mehr als 50 Schülerinnen in einer Klasse waren. Ein geordneter Lehrbetrieb war unter diesen Bedingungen kaum möglich. Unter Lehrern und
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