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Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen

Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen

Titel: Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen
Autoren: Inge Deutschkron
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fest umklammert, so als wollte sie ihrer Forderung mehr Nachdruck verleihen. Meine Mutter sah sie verstört an, fragte schließlich erregt, wie dies denn zu verstehen sei. Da antwortete die kleine Frau, die jahrelang unsere Wäsche gewaschen hatte: „Der Fritz, unser Nachbarsjunge, ist als Soldat in Polen gewesen. Er hat gesehen, was sie dort mit den Juden machen.“ Und rasch fügte sie hinzu, daß ihr Mann und sie uns davor bewahren wollten. Das war im November 1942 gewesen. Ich war gerade 20 Jahre alt, als diese Frau die Vollstreckung des mir zugedachten Todesurteils auf ihre Weise zu verhindern suchte.
    Dabei hatte alles so normal angefangen. Ich war 1922 in der kleinen Stadt Finsterwalde geboren worden. Als mein Vater meiner Mutter seine Versetzung an das dortige Gymnasium mitteilte, suchte sie den Ort vergebens auf ihrem Schulatlas. Finsterwalde würde nur eine Station in seiner Beamtenlaufbahn sein, beruhigte sie mein Vater, die mit einer Pension am Ende seiner Karriere so viel Sicherheit versprach. Auch für das Kind Inge schien der Weg vorgezeichnet zu sein – höhere Schulbildung, Universität, möglicherweise Doktortitel. Als ich vier oder fünf Jahre alt war, wurde mein Vater nach Berlin versetzt, wo er als Studienrat in einem Gymnasium im Wedding lehrte.
    Ich mußte mich nun an die Großstadt gewöhnen. Mit der Kleinstadtidylle war es vorbei. Ich durfte nicht mehr auf der Straße mit anderen Kindern spielen. In den Straßen der Großstadt lauerten zu viele Gefahren für ein kleines Mädchen, meinten meine Eltern. Sie erlaubten mir auch nicht, Rad fahren zu lernen. Der Großstadtverkehr sei dafür zu rasant. Doch Berlin hatte für mich manches andere zu bieten. Da gab es den nahen Friedrichshain mit dem Märchenbrunnen und den jedem Kind vertrauten Figuren. Dann war da der Tennisplatz, wo ich meine ersten Lorbeeren als Balljunge verdiente, wenn meine Eltern ihre Matches spielten – im Tennis-Rot natürlich, einer Abteilung des Arbeitersportbundes, wie es ihrer politischen Einstellung entsprach. Und da war die von Maschinen betriebene Eisbahn, auf der ich sogar noch in lauen Sommermonaten meine Pirouetten drehen konnte. Meine Mutter blähte sich vor Stolz, wenn Zuschauer am kleinen Mädchen im roten Mäntelchen Talent entdeckten und ihm eine große Zukunft auf dem Eis voraussagten. Das aber enthüllte sie mir erst viel später, als mir der Besuch von Sportstätten als Jüdin untersagt war. Noch störte nichts diese Idylle.
    Doch dann klirrte Glas. Und das geschah immer öfter. Es war meist das Fenster meines zur Hufelandstraße gelegenen Zimmers, auf das die Nazis Steine warfen. Natürlich hatte ich Angst. Aber meine Mutter verstand es, mich zu beruhigen. Die Leuchttransparente und Fahnen auf unserem Balkon, mit denen meine Eltern während der Wahlkämpfe jener Jahre um Wählerstimmen für die Sozialdemokratische Partei warben, reizten die Nazis zu solch kriminellen Handlungen. Mein Vater stellte seine ganze Freizeit in den Dienst dieser Partei. Er sprach in öffentlichen Versammlungen gegen die Nazis, warnte die Berliner vor Hitler, dieser werde nur Krieg und Verderben bringen, ließe man ihn an die Macht. Ein Mitbewohner unseres Hauses wurde eines Nachts in unserem Hausflur angeschossen. Die Kugel sollte eigentlich meinen Vater treffen. Aber auch das hielt ihn nicht von seinen politischen Aktivitäten ab. Viele Jahre später, als mein Vater bereits im Ausland war, gestand ich meiner Mutter, daß ich vor dem Einschlafen immer auf Geräusche im Treppenhaus gehorcht hatte. Hallende Tritte von Stiefeln, wie sie die Hitler-Schergen zu tragen pflegten, verband ich mit Gefahr für meinen Vater.
    Die politische Überzeugung meiner Eltern teilte sich mir natürlich mit. Meine Eltern legten Wert darauf, daß ich wußte, was sie taten, und warum sie es taten. Ich bin ganz sicher, daß ich 1933 als Zehnjährige besser wußte, wer Hitler war und welche Ziele die Nazis verfolgten, als manche erwachsene Bürger dieses Landes. Zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen gehört nicht irgendeine Ferienreise oder ein kindliches Vergnügen, sondern die Tatsache, daß ich gemeinsam mit den politischen Freunden meiner Eltern in einem verräucherten Hinterzimmer einer Kneipe sitzen und helfen durfte, Flugblätter gegen die Nazis zu falten. An der Hand meiner Mutter ging ich auch in Demonstrationen mit. Im Berliner Lustgarten fühlte ich mich ebenso zu Hause wie auf dem Spielplatz im Friedrichshain.
    „Wir sind Juden,
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