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Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen

Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen

Titel: Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen
Autoren: Inge Deutschkron
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viel zu sehr mit meinen Eltern verbunden.
    Mein Vater hatte großes Glück. Eine englische Kusine überwies der Britischen Bank eine hohe Summe Geldes als Garantie dafür, daß mein Vater bei einer Einwanderung nicht dem englischen Staat zur Last fallen würde. Sie konnte dies nur für einen von uns tun. Mein Vater verließ Berlin am 19. April 1939. Wenig später ließ er uns wissen, daß er für meine Mutter und mich Arbeitsstellen in einem englischen Haushalt gefunden habe. Wir bemühten uns um unsere Ausreise. Aber es war schon zu spät. Am 1. September 1939 brach der Zweite Weltkrieg aus. Mein Vater war in England und meine Mutter und ich in Berlin. Und das blieb so sieben Jahre lang.
    Ich war 17 Jahre alt, als unsere Schule geschlossen wurde. Die Nazis hatten für uns Mädchen das Jüdische Kindergärtnerinnenseminar im Grunewald als einzige Ausbildungsstätte bestehen lassen. Ich begann dort mit einem Kurs als Kinderpflegerin. Kurz nach Kriegsbeginn sperrten die Nazis die Pension meines Vaters mit der Begründung, er lebe nun im feindlichen Ausland. Das war das Ende meiner Ausbildung. Ich mußte Geld verdienen. Als Jüdin hatte ich die Wahl zwischen Arbeit in einer Fabrik und in einem jüdischen Haushalt. Ich zog letzteres vor. Aber auch das wurde nach einem Jahr verboten. So blieb mir nur die Arbeit in einer Fabrik.
    In einem speziell für Juden eingerichteten Arbeitsamt wurde Juden Arbeitsstellen zugewiesen in Munitionsfabriken, auf Rieselfeldern, in der Straßenreinigung, im Straßenbau. Das Unglück wollte es, daß ich zu IG-Farben vermittelt wurde, und zwar in deren Seidenspinnerei für Fallschirme ACETA in Lichtenberg. Diese Fabrik war für ihre schlechte Behandlung von Juden berüchtigt. Im Büro drückte man mir einen Judenstern in die Hand, der am Arbeitskittel zu befestigen war, mit den Worten: „Wehe, wenn du den vergißt!“ Amtlich war diese Kennzeichnung noch nicht verordnet worden. Wir jüdischen Frauen waren weitgehend isoliert. Jeder Kontakt zu nichtjüdischen Arbeitern wurde verhindert. Eine arische Vorarbeiterin, die uns in die Arbeit einzuführen hatte, wahrte immer einen Meter Abstand, wenn sie mit einer von uns sprach. Zehn Stunden mußten wir aufpassen, daß sich der Faden auf den rotierenden Spulen nicht verhedderte, abriß oder die Spindeln nicht leerliefen. Wir hatten einen eigenen Frühstücksraum, in dem zwar ein Tisch stand, Sitzgelegenheiten aber fehlten. Während der Pause gab es unter den Frauen nur ein Gesprächsthema: Wie kommen wir hier wieder raus? Frauen, die schon länger dort arbeiteten, berichteten, daß es einigen Frauen gelungen wäre, entlassen zu werden. Unterleibskrankheiten wären ein Grund, der akzeptiert würde. Sie machten stundenlanges Stehen an der Maschine unmöglich. Auch ich wäre dieser Fabrik gern entronnen. Doch ich wußte nicht, wie. Ich war 19 Jahre alt und kerngesund. Eines Tages kam mir die rettende Idee. Ich trug zur Arbeit Schuhe mit den höchsten Absätzen, die ich je besessen hatte. Zehn Stunden an der Maschine stehen, drei in der Straßenbahn vom und zum Arbeitsplatz – Juden war das Sitzen in öffentlichen Verkehrsmitteln untersagt –, da wurden die hohen Absätze zur Tortur. Nach drei Tagen konnte ich mein rechtes Knie nicht mehr bewegen. Ein nichtjüdischer Arzt hatte den Mut, mir zu attestieren, daß ich für stehende Arbeit untauglich sei. Ich wurde krankgeschrieben. Dann folgte eine Aufforderung zum Betriebsarzt: „Ziehen Sie die Schlüpfer aus!“, befahl er und wies auf einen Untersuchungsstuhl. Ich sagte, daß es sich um mein Knie handelte. Er gab mir mit einer Handbewegung zu verstehen, daß ihn das nicht interessiere. Nach einer peinlichen und nicht gerade schmerzfreien Untersuchung empfahl er meine Entlassung. Die IG-Farben-Krankenkasse sei nicht gewillt, weiter für mich Krankengeld zu zahlen.
    Trotz der Demütigung war ich selig. Und ich hatte allen Grund dazu. Ein glücklicher Zufall wollte es, daß ich Otto Weidt kennenlernte, der in der Rosenthaler Straße 39 eine Werkstatt zur Produktion von Besen und Bürsten betrieb. Weidt, der praktisch blind war, beschäftigte fast ausschließlich blinde und taubstumme Juden. Für mich und zwei weitere sehende Juden fand er Aufgaben in seinem Büro, was streng verboten war. Otto Weidt haßte die Nazis. Er tat alles, was in seinen Kräften stand, um seinen Arbeitern zu helfen – mit Lebensmitteln, die Juden nur in sehr begrenztem Umfang zugeteilt wurden, mit Tabak und Gebrauchsartikeln,
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