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Überfahrt mit Dame

Überfahrt mit Dame

Titel: Überfahrt mit Dame
Autoren: Henry James
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ihre Koffer aus- und wieder einpackte, wobei sie das obenauf liegende Hochzeitskleid ganz nach unten verstaute. Anthony Trollope schrieb seine Geschichte eigens für eine Anthologie des feministischen Verlags Victoria Press, und die entsprechende sozialkritische Botschaft lässt sich am besten mit den Worten der tragischen Heldin Miss Viner zusammenfassen: »Ein englisches Armenhaus steht mir nicht offen. Sie wissen nicht, was es heißt, Freunde zu haben – nein, nicht Freunde, sondern Angehörige, nur gerade so verwandt, dass Ihr Ansehen für sie von Interesse ist, aber nicht so, dass es sie kümmert, ob Sie glücklich sind. Wenn Emily Viner Mr. Gorloch in Peru heiratet, ist sie auf ehrbare Weise aus dem Weg geräumt. Sie wird keinen Ärger mehr machen, und man kann ihren Namen in Familienkreisen sorglos erwähnen. Es gibt tatsächlich Menschen, Mr. Forrest, die kein Recht auf ein Leben haben.«
    Henry James hat dieses Sujet der nicht mehr ganz jungen Frau, deren einzige Zukunftsperspektive in einer lieblosen Ehe besteht, höchstwahrscheinlich von Trollope übernommen – man kann dies aus den vielen Ähnlichkeiten und Parallelen der beiden Texte schließen, zum Beispiel aus der gleichlangen Verlobungszeit von Miss Mavis und Miss Vine und aus dem Chaos in Grace Mavis’ Kabine, das andeutet, dass auch sie ihren Koffer ausund wieder einpackte. Allerdings setzt James’ Sozialkritik früher ein und bezieht sich nicht allein auf die Rolleder Frau und ihrer aufgrund ihres Geschlechts eingeschränkten Selbstbestimmung. Für ihn sind die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten das wichtigere Thema. Seine Heldin Miss Mavis stammt aus einer gesellschaftlichen Vorhölle, »die sich hier und da zu einem hübschen Gesicht verdichtet, wo Töchter ihren Müttern eine ›Zierde‹ sind und manchmal mit Gentlemen aus prächtigeren Wohngegenden Bekanntschaft schließen, mit Gentlemen, deren Frauen und Töchter an diesen Bekanntschaften nicht teilhaben.« Grace Mavis’ Beziehung zu Jasper Nettlepoint erscheint von Anfang an im Licht einer bequemen und kurzlebigen Liebschaft, die für den Liebhaber nie mehr als eine Spielerei sein würde, während sie für die junge Dame möglicherweise die letzte, wenn auch trügerische Hoffnung auf einen glücklichen Ausweg darstellte. James zeigt, dass die amerikanische Klassengesellschaft ebenso erbarmungslos Grenzen setzt wie die englische, auch wenn er anfangs in der Figur der Mrs. Nettlepoint die bedingungslose, alle Klassenschranken überwindende Hilfsbereitschaft als typisch amerikanische Tugend präsentiert.
    Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der englischen bzw. europäischen und amerikanischen Gesellschaft sowie ihre Wechselbeziehungen, die durch die neuen, vergleichsweise schnellen Dampfschiffsverbindungen verändert und intensiviert wurden, spielen inHenry James’ literarischem Werk eine zentrale Rolle. In zahlreichen seiner über hundert Erzählungen wie auch in seiner erfolgreichsten, Daisy Miller (1877), und in etlichen seiner zwanzig großen Romane, darunter seine bekanntesten The Portrait of a Lady (dt. Bildnis einer Dame , 1881) und The Wings of the Dove (dt. Die Flügel der Taube , 1902), steht diese Frage im Mittelpunkt. The Patagonia deutet diese Beziehungen vor dem Hintergrund einer Atlantiküberquerung an, wobei der Dampfer selbst ein angemessenes Symbol für die neugestalteten transatlantischen Beziehungen darstellt. Dennoch wäre es zu einfach, die Novelle lediglich als eine weitere Variante jenes für den Autor so wichtigen Themas anzusehen.
    »Ich muss mein Bestes geben«, hatte James notiert, bevor er sich im März 1888 an die Arbeit machte. Das Ergebnis, das im August und September veröffentlicht wurde, kann wirklich zu den besten kürzeren Werken des Autors gerechnet werden, obwohl es auch zu seinen unbekanntesten zählt und von Literaturwissenschaftlern und Biographen kaum beachtet wurde. Virginia Woolf kritisierte Henry James’ Romane als »sehr geruhsam, wie ein Spaziergang in der Abenddämmerung«, und meinte, ein Genie müsse schreiben, dass es »wie ein schnell dahineilender Strom« wirke. So berechtigt diese Ansicht in Bezug auf andere Texte sein mag, so wenig gilt sie für The Patagonia . Obwohl das Meer während der Überfahrt ungewöhnlich ruhig bleibt und die Nächte klar und mildsind, spürt man am Ende die unbarmherzige Tiefe und Dunkelheit. Es ist eine Reise ins Herz der Finsternis, jener Region, die uns mit der Tatsache
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