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Überfahrt mit Dame

Überfahrt mit Dame

Titel: Überfahrt mit Dame
Autoren: Henry James
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Miss Viner inmitten einer Frauengruppe vor. Er ging auf sie zu, ergriff ihre Hand und fragte sie flüsternd, ob sie einen Moment mit ihm hinausgehen wolle.
    »Wo ist er?«, fragte sie. »Ich weiß, etwas ist vorgefallen. Was ist los?«
    »Hier herrscht ein solches Gedränge. Kommen Sie einen Moment mit hinaus.« Und er begleitete sie zu ihrem Zimmer.
    »Wo ist er?«, fragte sie. »Was ist geschehen? Er lässt mir ausrichten, dass er mich nicht mehr will. Sagen Sie mir: Bin ich von ihm befreit?«
    »Miss Viner, Sie sind frei.«
    Obwohl sie die Frage selbst gestellt hatte, überraschte sie die Antwort. Aber noch hatte sie keinerlei Vorstellung,was wirklich geschehen war. »So ist es«, sagte sie. »Also, was sonst noch? Hat er geschrieben? Er hat mich gekauft wie einen Packesel und hat wohl das Recht, mich zu behandeln, wie er will.«
    »Ich habe einen Brief. Aber, liebe Miss Viner …«
    »Na, erzählen Sie mir alles – heraus damit. Sagen Sie es.«
    »Sie sind frei, Miss Viner, aber es wird Sie ins Herz treffen, wenn Sie den Grund dafür erfahren.«
    »Er hat alles an der Börse verloren. Er ist ruiniert.«
    »Miss Viner, er ist tot!«
    Ein oder zwei Augenblicke lang starrte sie ihn an, als begriffe sie nicht, was er ihr mitgeteilt hatte. Dann ging sie langsam rückwärts zum Bett und setzte sich. »Tot, Mr. Forrest!«, sagte sie. Er antwortete ihr nicht, sondern reichte ihr den Brief, den sie mechanisch entgegennahm und las. Der Brief stammte von Mr. Gorlochs Geschäftspartner und enthielt alles, was sie wissen musste.
    »Soll ich gehen?«, fragte er, als er sah, dass sie den Brief zu Ende gelesen hatte.
    »Mich verlassen, ja – nein. Aber Sie sollten mich lieber allein lassen, damit ich über alles nachdenken kann. Weh mir, dass ich so über ihn gesprochen habe!«
    »Aber Sie haben nichts Unfreundliches gesagt.«
    »Doch, vieles war unfreundlich. Gesagt ist gesagt. Lassen Sie mich jetzt allein, aber kommen Sie bald zu mir zurück. Hier gibt es niemanden sonst, mit dem ich reden kann.«
    Er ging, und als er feststellte, dass das Abendessen im Hotel angerichtet war, speiste er. Dann bummelte er in die Stadt, durch die heißen schmalen, verfallenen Straßen, und nachdem er zwei Stunden fortgeblieben war, kehrte er zurück in Miss Viners Zimmer. Als er klopfte, kam sie und öffnete die Tür, und er sah, dass der Boden mit Kleidungsstücken übersät war. »Sie sehen, ich bereite mich auf meine Rückreise vor. Das Schiff läuft übermorgen nach St. Thomas aus.«
    »Sie tun schon recht daran, abzureisen – sofort abzureisen. Oh, Miss Viner! Emily, nun müssen Sie sich von mir helfen lassen.«
    Fast die ganzen letzten zwei Stunden hatte er an sie gedacht, und ihre Stimme klang immer schöner in seinen Ohren, und ihre Augen kamen ihm sehr strahlend vor.
    »Sie werden mir helfen«, sagte sie. »Helfen Sie mir denn nicht, wenn Sie mich zu solch einer Stunde besuchen und mit mir reden?«
    »Und Sie werden mich glauben lassen, ich hätte das Recht, als Ihr Beschützer zu handeln?«
    »Mein Beschützer! Ich weiß, dass ich eine solche Hilfe nötig habe. In den Tagen, die wir hier gemeinsam verbringen, sollen Sie mein Freund sein.«
    »Sie dürfen nicht allein heimkehren. Meine Reisen bedeuten mir nichts. Emily, ich kehre mit Ihnen zurück nach England.«
    Da erhob sie sich von ihrem Sessel und sagte zu ihm:»Nicht um alles in der Welt. Von der Torheit, dass Sie Ihre eigenen Pläne über den Haufen werfen wollen, einmal abgesehen – halten Sie es denn für möglich, dass ich, jetzt, da er tot ist, mit Ihnen gehe? Ich habe mit Ihnen in barschem Ton über ihn gesprochen, und nun, da es meine Pflicht ist, um ihn zu trauern, wie könnte ich das von Herzen tun, wenn Sie bei mir wären? Als er noch lebte, schien es mir, als hätte ich in jenen letzten Tagen das Recht gehabt, meine Gedanken deutlich auszusprechen. Sie und ich sollten uns trennen und nie wiedersehen, und ich betrachtete uns beide als einzelne Personen, die eine Zeitlang die gewöhnlichen Gepflogenheiten der Welt außer Acht ließen. Das ist vorbei. Anstatt mit Ihnen weiterzureisen, muss ich Sie bitten, zu vergessen, dass wir je zusammen waren.«
    »Emily, ich werde Sie nie vergessen.«
    »Ihre Zunge soll mich vergessen. Ich habe Ihnen keinen Anlass gegeben, gut von mir zu sprechen, und Sie werden zu freundlich sein, um etwas Böses zu sagen.«
    Danach erklärte sie ihm alles, was sie aus dem Brief erfahren hatte. Die Vorkehrungen für ihre Reise waren bereits
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