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Überfahrt mit Dame

Überfahrt mit Dame

Titel: Überfahrt mit Dame
Autoren: Henry James
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auf die ihm wohlvertraute Schiffsverbindung zwischen Boston und Liverpoolund rückte sie so in die unmittelbare Nähe einiger seiner früheren Werke, in denen transatlantische Beziehungen im Mittelpunkt stehen. Es sollte jedoch noch einige Wochen dauern, bis die geplante Novelle Gestalt annahm. Die Anekdote hatte nämlich einen heiklen Aspekt: Sie handelte von der Beziehung einer verheirateten Frau zu einem jungen ledigen Mann – ein Thema, das für die amerikanischen und englischen Zeitschriften, in denen James veröffentlichte, weitgehend tabu war. Für den Autor war dies ein Ärgernis, aber auch ein Problem, das er lösen musste, wenn er seinen Text verkaufen wollte. »O Geist von Maupassant, eile mir zu Hilfe!«, schrieb er in sein Notizbuch, und später, in der fertigen Novelle, gibt es eine kleine Szene, die dieses Problem andeutet: In der Vorstellung des Erzählers verwandelt sich Miss Mavis in die verheiratete Heldin eines französischen Romans.
    Es sollte einige Zeit vergehen, ehe James eine zufriedenstellende Lösung fand und die Handlung und die Figuren seiner Novelle etwas ausführlicher skizzierte. Am 11. März 1888 schrieb er: »Hier sitze ich, begierig, mit der Arbeit zu beginnen: nur fehlt es mir noch an Konzentration, um dranzubleiben: voller Ideen, voller Ehrgeiz, voller Talent – glaube ich zumindest. Manchmal scheinen jedoch die Entmutigungen größer zu sein als alles andere – die Verzögerungen, die Unterbrechungen, das éparpillement [die Zerstreuung] etc. Aber Mut, Mut und voran, voran. Wenn man schon verallgemeinern muss, istdies die einzige Verallgemeinerung. Es gibt ungeheuer viel zu tun, und ohne eitle Anmaßung – ich werde schlimmstenfalls einen Teil davon erledigen. Doch muss man die ganze Mannhaftigkeit zusammennehmen.«
    Auf den kurzen Tagebucheintrag folgt ein ausführlicher Entwurf, der von Fanny Kembles Anekdote nur die Seereise, den Tratsch an Bord des Schiffs und den Selbstmord der Hauptfigur übernimmt. Aus der jungen verheirateten Frau, die aus Indien nach England heimkehrt, wird eine ältere verlobte Dame der amerikanischen Mittelschicht, aus dem britischen Offizier St. Leger ein egozentrischer Schönling der amerikanischen Oberschicht, der sich bestens darauf versteht, andere für seine Zwecke auszunutzen – eine Figur, die in verschiedenen Variationen und Verkleidungen durch James’ Werke geistert. Die Dame, Grace Mavis, ist auf dem Weg, eine durch die Umstände unvermeidliche Vernunftehe einzugehen. Der Schönling ist – möglicherweise – auf ein kleines Liebesabenteuer aus. Genaues erfährt man nicht, vieles bleibt buchstäblich im Dunklen und wird durch den Erzähler, der die Ereignisse miterlebt hat, interpretiert. Die Figur des beteiligten Erzählers ist James’ interessantester Kunstgriff, der auch dem Autor selbst besonders wichtig war: »Ich muss die Geschichte als Augenzeuge erzählen«, notierte er in sein Tagebuch, und diese Perspektive sollte es ihm ermöglichen, den tragischen Vorfall, mit dem die Novelle endet, noch vieldeutiger und unerklärlicher zumachen. In der ursprünglichen Anekdote wird die Dame durch den Klatsch an Bord in den Selbstmord getrieben. In James’ Version bleibt vieles ungewiss. Verzagt die Heldin an dem Skandal, den sie verursacht, an dem Gefühl, das Gesicht verloren zu haben, an verschmähter Liebe oder an einer unausgesprochenen Angst vor der Zukunft? Der Erzähler hat keine Antwort, und ihm wird von seiner alten Freundin Mrs. Nettlepoint sogar bescheinigt, dass seine Sicht der Dinge nicht unbedingt mit der Wirklichkeit übereinstimmen muss: »Wissen Sie was, sie beobachten nicht – Sie bilden sich etwas ein.«
    Der Beobachter erscheint also als ein Augenzeuge mit der Phantasie eines Schriftstellers, und es bleibt am Ende durchaus eine Möglichkeit, dass er es war, der die Katastrophe auslöste, indem er eben nicht nur beobachtete, sondern das Geschehen auch interpretierte und den Verlauf durch seine Eingriffe mit lenkte – die Akteure zur Rede stellte und seine Interpretationen weitererzählte.
    Henry James hatte beim Schreiben ständig Bedenken, dass sich seine geplante Novelle zu einem Roman ausweiten könnte, doch dürfte ihm früh klar geworden sein, dass der besondere Reiz der Geschichte nicht im umfassenden Ausleuchten der Ereignisse und der Motive seiner Figuren liegt, sondern im Unbestimmten, Ungesagten, in einer anspielungsreichen Erzählweise, die dem Leser viel Raum für eigene Schlussfolgerungen lässt und zu
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