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Überfahrt mit Dame

Überfahrt mit Dame

Titel: Überfahrt mit Dame
Autoren: Henry James
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durch meine Reise hierher den Mann, den ich kenne, berauben und betrügen und dazu noch den Mann, den ich nicht kenne, bestehlen. Ich fürchte mich vor dem, was jenseits des Wassers liegt, worüber wir gesprochen haben, doch will ich mich lieber dem stellen, als zu handeln, wie Sie vorschlagen.«
    »Die Gefühle zwischen ihm und Ihnen kann ich natürlich nicht beurteilen.«
    »Nein, nein, das können Sie nicht. Aber was bin ich doch für ein Unmensch, Ihnen nicht zu danken! Ich danke Ihnen. Würde ich Ihr überaus edelmütiges Angebot annehmen, wäre das gemein von mir. Ich freue mich – ich kann nicht sagen, warum –, aber ich freue mich, dass mir dieses Angebot gemacht wurde. Aber wenn Sie mich als Schwester betrachten, werden Sie einsehen, dass es inakzeptabel ist – ich meine, ich könnte es nicht einmal annehmen, wenn ich mich dazu durchringen könnte, den anderen Mann zu betrügen.«
    So reisten sie durch die Karibik und führten immer wieder Gespräche wie das obige. Sie ankerten in Santa Marta und Cartagena, an der Küste Mittelamerikas, und in beiden Häfen gingen sie an Land. Er stellte fest, dass sie über eine recht gute Bildung verfügte und begierigwar, alles zu sehen und zu lernen, was sie im Lauf ihrer Reisen sehen und lernen konnte. Am letzten Tag, als sie sich dem Isthmus näherten, brachte sie ihre Gefühle ruhiger und leiser zum Ausdruck als zuvor, und ihre Worte waren weniger trübsinnig.
    »Sollte ich ihn am Ende nicht doch lieben?«, sagte sie. »Er kommt den ganzen weiten Weg von Callao hierher, nur um mich zu treffen. Welcher Mann würde von London nach Moskau reisen, um eine Frau abzuholen?«
    »Ich – und von dort rund um die Welt und wieder nach Moskau –, für die Frau, die ich will.«
    »Ja, aber eine Frau, die Ihnen nie gesagt hat, dass sie Sie liebt! Es ist eine reine Vernunftsache. Also, ich habe meine große Reisetruhe verschlossen und werde ihm den Schlüssel geben, bevor sie je wieder geöffnet wird. Er hat ein Recht darauf, denn er hat fast alles bezahlt, was darin ist.«
    »Sie betrachten alles aus einer so nüchternen Perspektive.«
    »Das sollte eine Frau auch tun, sonst gerät sie ständig in Schwierigkeiten. Hören Sie, ich werde Sie mit ihm bekanntmachen und ihm sagen, was Sie alles für mich getan haben. Wie Sie Zerberus trotzten und alles Übrige.«
    »Ich würde mich gewiss freuen, ihn kennenzulernen.«
    »Aber ich werde ihm nichts von Ihrem Angebot erzählen – kein Sterbenswort. Wenn er gütig und sanft zu mir ist, werde ich es ihm später einmal erzählen. Ich kann Geheimnissenicht gut für mich behalten – wie Sie zweifellos längst bemerkt haben. Wir werden die Landenge sogleich überqueren, nicht wahr?«
    »Das sagt der Kapitän.«
    »Sehen Sie!« – und sie gab ihm seinen Feldstecher zurück. »Ich kann die Männer auf dem Holzsteg erkennen. Ja, und ich sehe den Rauch einer Lokomotive.« Und dann, etwas über eine Stunde später, drehte sich das Schiff an seinem Ankerplatz.
    Colón oder Aspinwall, wie man es nennen sollte, ist ein ebenso abscheulicher Ort wie St. Thomas. Dem Engländer ist der Ort nicht so verhasst, denn er wird von Engländern nicht öfter als nötig aufgesucht. Wir haben hier keine große Niederlassung, die man auch günstig woandershin versetzen könnte. Wenn man jedoch nur seine Vorzüge betrachtet, ist Aspinwall kein abscheulicher Ort. Allerdings ist es ein Glück, dass Reisende, die den Isthmus zum Pazifik überqueren, nie dazu verdammt sind, dort lange zu verweilen. Wenn sie früh am Tag ankommen, können sie gleich mit dem Zug nach Panama weiterfahren. Wenn nicht, bleiben sie bis zum nächsten Morgen an Bord ihres Schiffs. Es liegt natürlich nahe, dass die Transitstrecke hauptsächlich von Amerikanern genutzt wird, denn sie ist die wichtigste Verbindung zwischen New York und Kalifornien.
    Weniger als eine Stunde nach ihrer Landung hatten die Zollbeamten von Neugranada ihr Gepäck geprüft, undschon befanden sie sich in der Eisenbahn, die den Isthmus überquert. Die Beamten an diesen entlegenen Orten wirken immer wie Affen, die menschliche Handlungen imitieren. Die Zöllner in Aspinwall öffnen und betrachten die Koffer, wie Affen es tun würden, wobei sie keine klare Vorstellung haben, wonach sie suchen oder welche Güter dieser und jener Sorte nicht eingeführt werden dürfen. In Europa ist es wichtig, Koffer zu untersuchen, die in ein anderes Land gebracht werden, warum also sollten sie nicht ebenso gut wie die Europäer
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