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Über den Missouri

Über den Missouri

Titel: Über den Missouri
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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Indianer nicht so vollständig gebrochen, daß er die Stimme des Capt’n Roach hören und seine Gegenwart hätte ertragen können, ohne von Haß gepackt zu werden.
    Als die ersten Stunden der Nacht vergangen waren, begann der Gefangene darauf aufmerksam zu werden, daß etwas anders verlief als in den anderen Nächten. Roach hatte sich sehr früh zu Bett gelegt; der Dakota hatte die Schritte und das Quietschen der Zwischentür gehört; das waren Geräusche, die er genau kannte. Der Capt’n schnarchte, und der Gefangene unterdrückte mühsam seinen Husten, weil er etwas Ungewöhnliches vernommen hatte und lauschen wollte. Der Wachposten, der sich, wie jede Nacht, im Kommandantenzimmer eingerichtet hatte, verließ das Haus eben wieder. Der Dakota hörte ihn hinausgehen und zuschließen. Zeit verging, aber der Posten kam nicht wieder.
    In dem Gefangenen sprang ein Argwohn auf, der ihn im Grunde Tag und Nacht beseelte. Er glaubte, daß Roach ihn ermorden lassen wollte. Er wartete im stillen jeden Tag und jede Nacht auf einen Mörder. Warum war jetzt die Wache weggegangen? Sollte etwas geschehen, wovon der Kommandant dienstlich nicht gewußt haben wollte?
    Es mußte um Mitternacht sein. Roach schnarchte immer noch. Die Tür zum Kommandantenzimmer wurde wieder aufgeschlossen. Es trat jemand ein und schloß wieder zu. Schritte ließen sich hören. Es waren nicht die Schritte des Wächters. Es war ein leichter, tastender Schritt. Ein Brett knarrte. Darauf war es wieder still, als ob jemand fürchtete, sich zu verraten.
    Der Dakota bewegte den Kopf. Seine wochen- und monatelangen Kopfschmerzen beeinträchtigten sein scharfes Wahrnehmungsvermögen, aber sein Wille zwang seine Gehörnerven und sein Gehirn, in diesem Augenblick zu funktionieren. Er horchte angespannt und nahm den nächsten vorsichtigen Schritt wahr.
    Die Vermutungen und die Stimmung des Gefangenen schlugen um. Eine derartige Vorsicht zu üben, hätte ein Mörder im Auftrag des Capt’n nicht nötig gehabt. Alle Hoffnungen, die der Gefangene lange und gewaltsam hinuntergewürgt hatte und auch jetzt niederhalten wollte, erhoben sich und überwältigten ihn.
    Wer war da oben? Was wollte er? Würde er den Deckel heben?
    An dem Deckel, der die Bodenöffnung zum Keller verschloß, wurde gearbeitet. Der Deckel bewegte sich ein wenig, fiel wieder zurück, als sei er schwachen Händen zu schwer gewesen, und bewegte sich von neuem. Er wurde ganz aufgehoben. Der Gefangene befand sich in einiger Entfernung von der Öffnung und konnte nicht hinaufsehen. Er hörte aber, wie die Leiter bewegt, und sah dann, wie sie langsam heruntergelassen wurde. Es erschienen zwei kleine Füße in hohen Reitstiefeln, die von Sprosse zu Sprosse abwärts stiegen.
    Die Dunkelheit war von einem schwachen Schimmer des Mondlichts aufgehellt. Der Dakota erblickte ein Mädchen. Sie hatte den Kellerboden erreicht, sah sich um und ging auf den Gefangenen zu.
    »Du kennst mich, Tokei-ihto«, sagte sie einfach. »Ich bin Cate, die Tochter des Samuel Smith. Mein Vater ist gestorben. Ich gehe jetzt auch fort. Tobias hat mir den Auftrag gegeben, dir vorher etwas zu sagen.«
    »Ja?« Das Wort war mehr ein Bewegen der Lippen als ein Ton.
    »Der Krieg ist zu Ende. Der Befehl, dich zu entlassen, ist schon da. In spätestens vierzehn Tagen hat Roach auf seine Rückfrage die Bestätigung, daß er ihn unbedingt ausführen muß. Tobias ist der Bote. Du wirst frei.«
    Das Wort »frei« traf den Gefangenen wie ein Kriegsruf, der den Mann aus dem Schlaf weckt; die Willenskraft des Häuptlings sprang sofort auf, und ohne Gefühlen Raum zu geben, konzentrierte er sein Denken. Er mußte fragen, er konnte fragen; das war seine erste Waffe, nach der er zu greifen vermochte. »Wie hat der Krieg geendet?«
    »Mit eurer Niederlage, Häuptling. Es ist wahr, daß ihr erst große Siege errungen habt. Eure Häuptlinge Sitting Bull und Crazy Horse haben die Truppen des Generals Custer vernichtet, und Custer selbst ist gefallen. Nur ein einziger Scout und ein Maultier entkamen. Auch die Generale Crook, Benteen und Reno habt ihr geschlagen, und sie mußten sich zurückziehen. Aber dann ist euren Männern die Munition ausgegangen. Sie mußten weichen.«
    »Wo ist Red Fox?«
    »Zur Agentur geritten. Er wird dort Dolmetscher.«
    »Was macht Adams?«
    »Er ist entflohen, als sie seine Eisenfeile bei dir fanden. Er geht nach Canada. In den Staaten, wo sein Vater ermordet wurde, will er nicht bleiben.«
    »Sein Vater ermordet? Wie
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