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Über das Sterben

Über das Sterben

Titel: Über das Sterben
Autoren: Gian Domenico Borasio
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man nicht gelebt hat und jetzt sterben muss.» Etwas Ähnliches, nur charakteristischerweise noch pessimistischer gefärbt, sagte der Philosoph Arthur Schopenhauer: «Es werden die meisten, wenn sie am Ende zurückblicken, finden, dass sie ihr ganzes Leben hindurch ad interim gelebt haben, und verwundert sein zu sehen, dass das, was sie so ungeachtet vorübergehen ließen, eben ihr Leben war, in dessen Erwartung sie lebten. Und so ist denn der Lebenslauf des Menschen in der Regel dieser, dass er, von der Hoffnung genarrt, dem Tode in die Arme tanzt.»[ 2 ]
    Woher nehmen wir eigentlich die Gewissheit, dass Sterbende gute Lehrer für das Leben sind? Ist es nur die persönliche Erfahrung? Interessanterweise gibt es inzwischen gute wissenschaftliche Belege dafür, dass schwerkranke und sterbende Menschen besser wissen als Gesunde, worum es im Leben wirklich geht. Das geht unter anderem aus Untersuchungen über die Lebensqualität von Patienten und Gesunden hervor, die eine sogenannte «patientengenerierte Methode» verwenden. Bei dieser Methode werden die Patienten selbst gefragt, welche Lebensbereiche denn am wichtigsten für ihre Lebensqualität sind. Sie können dabei ganz frei wählen, ohne jede Vorgabe. Wir haben dieses Verfahren bei ALS-Patienten angewendet, deren Lebenserwartung bei ca. zwei Jahren lag. Es stellte sich – nicht ganz überraschend – heraus, dass die zwei wichtigsten Bereiche für die Lebensqualität dieser Patienten die Gesundheit und die Familie sind. Überraschender war indes die Tatsache, dass 100 Prozent der Befragten die Familie als lebensqualitätsrelevanten Bereich angaben, aber nur53 Prozent die Gesundheit. Und diejenigen, welche die Gesundheit nicht nannten, hatten eine bessere Lebensqualität.
    Bei dieser Methode kann man auch mittels eines etwas komplizierten Verfahrens die Zuverlässigkeit und Gültigkeit der Antworten messen. Diese Untersuchung wurde bei sehr vielen Patientengruppen und gesunden Personen durchgeführt, und bei weitem die höchste Zuverlässigkeit und Gültigkeit der Antworten fand sich bei Palliativpatienten und bei ALS-Patienten. Diese schwerstkranken Menschen wissen also nachweislich besser als Gesunde Bescheid, was ihre Prioritäten im Leben sind. Man könnte vermuten, dies komme daher, dass sie gelernt haben – lernen mussten –, im Angesicht des Todes zu leben. Entsprechend zeigen viele Untersuchungen aus den letzten Jahren, dass die vom Patienten selbst definierte Lebensqualität nicht von der physischen Funktionsfähigkeit abhängt.[ 3 ]
    Zu diesem Befund passen ebenfalls die in Kapitel 4d erwähnten Daten aus der Untersuchung von Martin Fegg über die Wertvorstellungen Sterbender, die eine eindrucksvolle Verschiebung hin zum Altruismus aufweisen. Die «Belohnung» dafür ist eine höhere Lebensqualität trotz schwerster Erkrankung und begrenzter Lebenserwartung. Hier merken wir: Im Angesicht des Todes erkennen die Menschen, worauf es wirklich ankommt. Und die Frage drängt sich auf: Was können wir tun, um diese Erkenntnis für uns selbst zu erreichen, bevor es ans Sterben geht?
    Ein weiser Mann riet in diesem Zusammenhang dazu, die kleinen und großen Wunder an uns heranzulassen, die uns täglich und stündlich begegnen. Dazu möchte ich Ihnen eine Geschichte erzählen, die aus unserer Arbeit in der Kinderpalliativmedizin stammt.
    Es geht um einen vierzehnjährigen Jungen mit Namen Jascha, der von Geburt an herzkrank ist und mehrere schwere Operationen hinter sich hat. Einen Großteil seines Lebens hat er in Krankenhäusern verbracht. Jetzt steht die größte Operation an. Die Chancen, dass er diese Operation und ihre Folgen überlebt, werden mit etwa einem Drittel angegeben (und Ärzte neigen im Allgemeinen bei solchen Prognosen eher zum Überoptimismus). Die Eltern werden von den Herzchirurgen unter Druck gesetzt, der Operation in jedem Fall zuzustimmen, ansonsten würde ihnen das Sorgerecht entzogen. Vater und Mutter sind gespalten und verzweifelt. Als wir zu Rate gezogen werden, erscheint die Situation verfahren. Nur eine Sache ist nicht passiert: Keiner hatte bis dahin das Kind selbst nach seinen Wünschen gefragt. Jascha war wegen seiner angeborenen Krankheit kleinwüchsig, etwa so groß wie ein Zehnjähriger, was noch mehr dazu führte, dass man ihn schützen und in bester Absicht von der Diskussion fernhalten wollte. Aber eben durch diese Krankheit und die ständige Konfrontation mit dem möglichen Tod war er, wie viele schwerkranke Kinder,
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