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Über das Sterben

Über das Sterben

Titel: Über das Sterben
Autoren: Gian Domenico Borasio
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    Wenn mir diese Frage gestellt wird, weise ich zunächst darauf hin, welche unschätzbaren Vorteile der Beruf des Palliativmediziners im sozialen Kontext besitzt: Gab ich früher bei gesellschaftlichen Anlässen meinen Beruf wahrheitsgemäß als Neurologe an, kam sofort die Nachfrage: «Ach so, Neurologe, das ist gut, da könnten Sie mir vielleicht helfen, ich habe seit Jahren eine schlimme Migräne, und meine Frau plagt der Ischias …» Seitdem ich allerdings als Beruf «Palliativmediziner» angebe, fragen die meisten zunächst nach, was das genau sei, und wechseln dann ganz schnell das Thema – und der Abend ist gerettet.
    Betrachtet man die Frage aber etwas ernsthafter, so hat sie durchaus ihre Berechtigung. Die Forschung im Bereich derSalutogenese (ein neuer Forschungszweig in der Psychologie, der sich mit der Untersuchung gesundheitsfördernder Faktoren beschäftigt) hat gezeigt, dass dieselben Faktoren für manche Menschen zur großen Belastung und für andere zur großen Bereicherung werden können, je nach Vorerfahrungen und Einstellung. Zu diesen Faktoren gehört auch die Beschäftigung mit Tod und Sterben, nicht nur im beruflichen Kontext. Wie können wir damit so umgehen, dass die Belastung verringert und die Chance einer positiven Wirkung maximiert wird?
    Es ist zunächst hilfreich, sich ganz bewusst der Tatsache zu stellen, dass nur zwei Dinge im Leben sicher sind: Erstens, wir werden alle sterben. Zweitens, wir wissen nicht, wann. Zur Frage, wie man mit diesen zwei unumstößlichen Gewissheiten umgehen sollte, hat schon vor langer Zeit, ungefähr im Jahr 49 nach Christus, der römische Philosoph Seneca eine Schrift verfasst, die passenderweise
De brevitate vitae
(«Von der Kürze des Lebens») betitelt ist. Er schreibt darin:
    «Könnte man sich die Zahl der noch zur Verfügung stehenden Lebensjahre so wie die Zahl der vergangenen vor Augen führen, wie würden jene Menschen geängstigt, die nur wenige Jahre vor sich sehen, wie schonend würden sie mit diesen Jahren umgehen. Eine bestimmte, noch so kurze Zeitspanne kann man leicht einteilen. Mit erhöhter Sorgfalt muss man etwas hüten, von dem man nicht weiß, wann es zu Ende geht.»
    Dieses Bewusstsein um die eigene Endlichkeit ist das große Geschenk, das allen in der Palliativ- und Hospizarbeit Tätigen zur Verfügung steht. Der entscheidende Vorteil unserer Arbeit ist, dass wir die einmalige Chance haben, von unserensterbenden Patienten das Leben zu lernen. Das betrifft natürlich nicht nur Ärzte, sondern alle Beteiligten: Pflegende, Ehrenamtliche, Sozialarbeiter, Therapeuten oder Seelsorger. Der ehemalige Leiter der evangelischen Seelsorge am Klinikum der Universität München, Pfarrer Peter Frör, hielt einmal einen Vortrag mit dem Titel «Du stirbst, und ich lebe? An der Grenze des Lebens leben lernen». Er zitierte darin einen Satz aus dem Koran:
«Die Menschen schlafen, solange sie leben. Erst wenn sie sterben, erwachen sie.»
Pfarrer Frör fügte hinzu: «Sterbende, die ihr Erwachen zulassen, nehmen uns mit hinein in eine Welt, in der eine andere Wachheit herrscht, als wir sie sonst kennen.» Und weiter sagt er: «Ich lerne etwas von der Dringlichkeit der Zeit. Es ist nicht mehr viel Zeit. Der Wert dessen, was jetzt ist, was jetzt möglich ist und jetzt gerade geschieht, wird dafür umso wichtiger.»
    Herr M., der meditierende ALS-Patient aus Kapitel 5, war in dieser Hinsicht einer meiner wichtigsten Lehrer. Er hat mir gezeigt, dass wir wirklich, wie der hl. Ignatius von Loyola in seinen
Geistlichen Übungen
sagt, «von unserer Seite Gesundheit nicht mehr als Krankheit begehren» sollten, weil wir nicht wissen können, was für uns besser ist, was uns eher hilft, an das Ziel unseres Lebens zu kommen. Für mich war dies auch ein Schlüsselerlebnis, um einen Perspektivwechsel durchzuführen: Wir sollten uns als gesunde Ärzte oder Pflegende davor hüten, die «armen, alten, kranken Patienten» etwas von oben herab zu bemitleiden. Denn wir wissen nicht, ob es sich nicht in Wahrheit genau andersherum verhält und wir die Bemitleidenswerten sind – diejenigen, die die Hilfe der Patienten noch viel nötiger haben als diese die unsere.
    Die Begründerin der Palliativmedizin, die englische Ärztin, Sozialarbeiterin und Krankenschwester Dame Cicely Saunders(siehe Kapitel 4a und 10), sagte einmal: «Es ist nicht das Schlimmste für einen Menschen, festzustellen, dass er gelebt hat und jetzt sterben muss; das Schlimmste ist, festzustellen, dass
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