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Über das Sterben

Über das Sterben

Titel: Über das Sterben
Autoren: Gian Domenico Borasio
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unglaublich vorgereift. Er war wirklich ein kleines Wunder. Ich bat Jascha zu uns in die Runde, erzählte ihm, wie die Situation nach Einschätzung seiner Ärzte aussah, nämlich dass die Chancen 2 zu 1 gegen ihn standen, und fragte ihn nach seinen Wünschen. Wie sich herausstellte, hatte Jascha schon viel mehr über seine Situation mitbekommen, als den Anwesenden bewusst war (das, so habe ich inzwischen gelernt, ist eine allgemeingültige Regel, wenn es um Kinder in der Palliativmedizin geht, sei es als Patienten oder als Angehörige – immer wissen sie viel mehr, als die Erwachsenen vermuten). Jascha erzählte in seiner ruhigen, eindringlichen Art, dass er anfangs gegen die Operation gewesen sei, weil er schon so viel durchlitten hatte, aber in den letztenTagen hatte er sich mit seiner älteren Schwester länger darüber unterhalten (was auch keiner wusste) und sich entschieden, für seine Schwester und seine Eltern in die Operation einzuwilligen.
    Ich weiß nicht, ob es etwas mit dem Gespräch und der wirklichen Freiwilligkeit der Entscheidung zu tun hatte oder nicht – Tatsache ist, Jascha hat die Operation und alle Komplikationen überstanden, er lebt heute, mehrere Jahre nach der Operation, zu Hause, und es geht ihm gut.
    Die Begegnung mit den kleinen und großen Wundern des Lebens ist kein exklusives Privileg der im Bereich Palliativmedizin und Hospizarbeit Tätigen. Sie ist in dieser Arbeit nur manchmal etwas augenfälliger. Außerdem werden wir dabei stets unmissverständlich auf unsere eigene Endlichkeit hingewiesen. Das ist nicht immer angenehm. Es hilft aber ungemein, um die kleinen und großen Wirrnisse und Unannehmlichkeiten des Lebens, die eigenen menschlichen Schwächen und das, was wir bei den anderen für solche halten, eine Spur gelassener zu ertragen. Wenn wir ganz viel Glück haben, können wir es schaffen, unsere Prioritäten ein Stück weit nach dem Vorbild der Sterbenden zu ändern und damit unsere eigene Lebensqualität und auch unseren subjektiv empfundenen Lebenssinn deutlich zu erhöhen. Dafür kann man nur täglich dankbar sein.
Schlussbemerkung
    Mit der Entwicklung des Fachgebiets Palliativmedizin ist in der modernen Medizin in mehrfacher Hinsicht ein Perspektivwechsel eingeleitet worden: von einer organzentrierten, technokratischen zu einer menschenorientierten, ganzheitlichenMedizin, die auch den psychosozialen und spirituellen Bereich aktiv in die Betreuung einbaut. Die Sinnhaftigkeit dieses Ansatzes steht zwar für alle in der Palliativbetreuung Tätigen außer Frage, trifft aber in der Praxis auf beachtliche Widerstände. Diese kommen einerseits vom «klassischen» Medizinsystem, das die Bedeutung der klinischen und wissenschaftlichen Beschäftigung mit Fragen der psychosozialen Begleitung oder gar der Spiritualität in der Medizin grundsätzlich in Frage stellt; andererseits ist auch bei den Pflegenden, Sozialarbeitern, Psychologen und Seelsorgern ein gewisses Unbehagen bei der Vorstellung zu spüren, sich von der alleinigen Deutungs- und Handlungshoheit ihrer jeweiligen «angestammten» Gebiete verabschieden zu müssen.
    Gerade hierin liegt jedoch eine große Chance für alle Beteiligten, nämlich die Möglichkeit, unter Anerkennung der Besonderheit (und damit auch notwendigerweise Beschränktheit) der jeweiligen Fachperspektive mit allen anderen Disziplinen in einen fruchtbaren Austausch einzutreten – dabei immer orientiert an den Sorgen, Bedürfnissen und Ressourcen der Menschen, die sich uns in der Krankheitssituation anvertrauen. Im Idealfall kann dieser Austausch zu einer Horizontverschmelzung führen, die es dem Team erlaubt, für den jeweiligen Menschen mitsamt seinem sozialen Umfeld die angemessene Form der Begleitung zu erspüren. Die psychosoziale und spirituelle Dimension stellt dabei jenen Mehrwert dar, der den Unterschied zwischen «Cure» (gesund machen) und «Care» (liebevoll betreuen) ausmacht.
    Herr R., ein 55-jähriger Patient mit ALS, hatte mit uns und seiner Frau seine Patientenverfügung schon zwei Stunden lang besprochen. Seine Krankheit war weit fortgeschritten, er konnte fastnicht mehr sprechen, und seine Atmung war deutlich eingeschränkt. Er lehnte einen Luftröhrenschnitt ab und wünschte die Gabe von Morphin in der Sterbephase, die er nahen fühlte. Am Ende des Gespräches fragte ich ihn, ob er noch weitere Fragen habe. Er sagte dann, etwas unerwartet: «Herr Doktor, wann werde ich wieder gesund sein?» Es dauerte eine Weile, bevor ich antworten
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