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... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)

... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)

Titel: ... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
Autoren: Viktor E. Frankl
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aus der Darstellung womöglich auszuschließen, wo aber nötig – auch den Mut zu einer persönlichen Darstellung des Erlebens aufzubringen. Denn die eigentliche Gefahr einer solchen psychologischen Untersuchung liegt ja nicht darin, daß sie eine persönliche Tönung erfährt, sondern nur darin: daß sie eine tendenziöse Färbung erhält. Ich kann es daher ruhig andern überlassen, das hier Vorgebrachte nochmals und gleichsam bis zur Unpersönlichkeit zu destillieren und so aus dem hier dargebotenen Extrakt subjektiver Erlebnisse objektive Theorien herauskristallisieren zu lassen.
    Die psychologischen Theorien, um die es sich hierbei handeln mag, würden als Beiträge zu einer Psychologie bzw. Psychopathologie der Haft gehören, wie sie ja seit Jahrzehnten bereits vorliegt. Beiträge zu ihr hat bekanntlich schon der Erste Weltkrieg geliefert. Hat er uns doch mit dem Krankheitsbild der »Stacheldrahtkrankheit« (barbed wire disease) erstmalig bekanntgemacht, jener krankhaften seelischen Reaktion, die in Kriegsgefangenenlagern zu beobachten war. Dem Zweiten Weltkrieg war es vorbehalten, die »Psychopathologie der Massen« – wenn man so in Variierung des bekannten Ausdrucks und Buchtitels von Le Bon sagen darf – weiter zu bereichern: erstens insofern, als er uns den sogenannten »Nervenkrieg« bescherte, und zweitens, indem er uns eben das Erlebnismaterial der Konzentrationslager beschied.
    An dieser Stelle möchte ich bemerken, daß ich dieses Buch ursprünglich nicht unter meinem Namen erscheinen lassen wollte, sondern nur mit Angabe meiner Häftlingsnummer. Maßgeblich war mir hiefür meine Abneigung gegen ein Exhibitionieren von Erlebtem. Tatsächlich war die Niederschrift schon beendet, als ich mich davon überzeugen ließ, daß eine anonyme Veröffentlichung insofern entwertet würde, als der Mut zum Bekenntnis den Wert einer Erkenntnis erhöht. Daraufhin habe ich um der Sache willen auch auf nachträgliche Streichungen verzichtet und so den gebotenen Mut zum Bekennen gegen die Scheu vor dem Exhibitionieren ausgespielt – und damit gleichsam mir selber einen Streich gespielt.

Die erste Phase: Die Aufnahme ins Lager
     
    Versuchen wir, die Fülle des Materials von Selbst- und Fremdbeobachtungen, die Summe der Erfahrungen und Erlebnisse, die in den Konzentrationslagern gemacht wurden, in eine erste Ordnung zu bringen und eine grobe Einteilung zu treffen, dann könnten wir an den seelischen Reaktionen des Häftlings auf das Lagerleben drei Phasen unterscheiden: die Phase der Aufnahme ins Lager, die Phase des eigentlichen Lagerlebens und die Phase nach der Entlassung bzw. Befreiung aus dem Lager.

Bahnhof Auschwitz
     
    Die erste Phase ist gekennzeichnet durch das, was man als Aufnahmeschock bezeichnen könnte; wobei wir uns allerdings vergegenwärtigen müssen, daß die psychologische Schockwirkung unter Umständen der formalen Aufnahme vorausgehen kann. Wie war es beispielsweise bei uns, bei jenem Transport, mit dem etwa ich selber nach Auschwitz kam? Man stelle sich vor: Einige Tage und mehrere Nächte ist der Transport von 1500 Personen nun schon unterwegs – in einem Zug, in dessen Waggons je 80 Menschen auf ihrem Gepäck (dem letzten Rest ihrer Habe) herumliegen, und zwar so, daß gerade noch der oberste Teil der Coupéfenster von den aufgestapelten Rucksäcken, Taschen usw. frei ist und eine Sicht in die frühe Morgendämmerung erlaubt. Alles war der Meinung, der Transport ginge in irgendeinen Rüstungsbetrieb, dem wir als Zwangsarbeiter zur Verfügung gestellt werden sollten. Der Zug hält nun anscheinend auf offener Strecke; man weiß noch nicht recht, ob man sich noch in Schlesien oder bereits in Polen befindet. Unheimlich klingt das schrille Pfeifen der Lokomotive, gellend wie ein ahnender Hilfeschrei der durch die Maschine personifizierten, von ihr in ein großes Unheil geführten Menschenmasse, während der Zug, nunmehr sichtlich vor einer größeren Station, zu rangieren beginnt. Plötzlich ein Aufschrei aus der ängstlich wartenden Menge der Leute im Waggon: »Hier eine Tafel – Auschwitz!« Wohl jeder muß in diesem Augenblick fühlen, wie das Herz stockt. Auschwitz war ein Begriff, war der Inbegriff von undeutlichen, aber dadurch nur um so schreckhafteren Vorstellungen von Gaskammern, Krematoriumsöfen und Massentötung! Der Zug rollt langsam weiter, wie zögernd, so, als ob er die unselige Menschenfracht, die er führt, nur allmählich und gleichsam schonend vor die Tatsache stellen
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