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... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)

... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)

Titel: ... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
Autoren: Viktor E. Frankl
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wollte: »Auschwitz!« Jetzt sieht man schon mehr: In der fortgeschrittenen Morgendämmerung nimmt man rechts und links von der Strecke kilometerweit bereits die Umrisse eines Lagers von ungeheuren Dimensionen wahr. Endlose mehrfache Stacheldrahtumzäunungen, Wachttürme, Scheinwerfer und lange Kolonnen zerlumpter, mit Fetzen umgebener Menschengestalten, grau im Grau der Dämmerung und langsam, müde sich dahinwälzend durch öde, schnurgerade Lagerstraßen – niemand weiß wohin. Vereinzelte Kommandopfiffe hört man da und dort – niemand weiß wozu. Schon hat der eine oder andere von uns Schreckgesichte. Ich z.B. glaubte, ein paar Galgen und an ihnen Aufgehängte zu sehen. Mir graute, und das war gut so: wir alle mußten Sekunde für Sekunde, Schritt für Schritt in das große Grauen eingeführt werden. – Endlich sind wir in die Station eingefahren. Noch rührt sich nichts. Da – Kommandorufe in jener eigentümlichen Art von kreischendem, rauhem Schreien, das wir von nun an immer wieder und in allen Lagern zu hören bekommen sollten und das so klingt wie der letzte Schrei eines Gemordeten und doch anders: belegt, heiser, wie aus der Kehle eines Mannes, der immer wieder so schreien muß, der immer wieder gemordet wird...
    Da werden die Waggontüren aufgerissen und eine kleine Meute von Häftlingen in der üblichen gestreiften Häftlingstracht stürmt herein, kahlgeschoren, aber ausgesprochen gut genährt aussehend; in allen möglichen europäischen Sprachen sprechen sie, alle jedoch durchwegs in einer Jovialität, die in diesem Moment und in dieser Situation irgendwie grotesk anmutet. Wie der Ertrinkende nach dem Strohhalm, so faßt mein grundsätzlicher Optimismus, der mich seit damals immer wieder gerade in den schwersten Lagen überkommt, nach diesem Faktum: sie schauen nicht schlecht aus, diese Leute, sie sind sichtlich gut aufgelegt und sie lachen sogar; wer sagt mir, daß ich nicht auch in die verhältnismäßig günstige und glückliche Lage solcher Häftlinge kommen werde? Die Psychiatrie kennt das Krankheitsbild des sogenannten Begnadigungswahns: der zum Tode Verurteilte beginnt just im letzten Augenblick, unmittelbar vor seiner Hinrichtung zu wähnen, er würde eben erst im letzten Augenblick begnadigt werden. So klammerten auch wir uns an Hoffnungen und glaubten auch wir bis zum letzten Moment, es werde, es könne einfach nicht so arg sein. Siehe die pausbäckigen und rotwangigen Gesichter dieser Häftlinge! Noch wußten wir nichts davon, daß es sich bei ihnen um eine »Elite« handelte, um jene Häftlingsgruppe, die dazu ausersehen war, die Transporte von Tausenden, die täglich – durch Jahre – in den Bahnhof Auschwitz einrollten, in Empfang zu nehmen, d.h. ihr Gepäck zu übernehmen, mitsamt den darin enthaltenen bzw. verborgenen Werten: den rar gewordenen Gebrauchsgegenständen und geschmuggeltem Schmuck. Auschwitz war zu dieser Zeit fraglos ein einzigartiges Zentrum im Spätkriegseuropa: was sich dort, und zwar nicht nur in den riesigen Magazinen, sondern in den Händen der SS, aber auch der uns empfangenden Häftlingsgruppe an Gold und Silber, Platin und Brillanten befand, war wohl einzig dastehend. Während, unmittelbar vor dem Weitertransport in kleinere Lager, 1100 Häftlinge in einer einzigen Baracke (ich glaube, sie war für allerhöchstens 200 bestimmt) auf dem bloßen Erdboden kauernd, frierend und hungernd herumsaßen und -standen – nicht alle hatten zum Sitzen, geschweige denn zum Hinlegen Platz -, während wir innerhalb von vier Tagen nur ein einziges Mal ein Stückchen Brot (etwa 150 Gramm) faßten, hörte ich beispielsweise einmal mit an, wie der Blockälteste dieser Baracke über eine Krawattennadel aus Platin und mit Brillanten mit einem Häftling aus jener elitehaften Gruppe handelseinig wurde. Das meiste wurde freilich schließlich in Schnaps umgesetzt. Ich weiß allerdings nicht mehr, wieviel tausend Mark das für einen lustigen Abend ausreichende Quantum Schnaps damals dort kostete. Ich weiß nur eines: diese langjährigen Häftlinge brauchten den Schnaps. Denn wer wollte es einem Menschen verargen, wenn er in solcher innerer und äußerer Situation sich betäuben will? Abgesehen von jener Gruppe von Häftlingen, die in den Gaskammern und im Krematorium beschäftigt wurden und ganz genau wußten, daß sie, von einer andern Gruppe turnusweise abgelöst, eines Tages selber den Weg jener Opfer gehen müssen, denen gegenüber sie Henkersknechte zu sein gezwungen waren;
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