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... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)

... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)

Titel: ... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
Autoren: Viktor E. Frankl
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Interessen gekämpft, seien es nun die persönlichen oder die eines engsten Freundeskreises. Nehmen wir etwa an, es steht ein Transport bevor, der eine bestimmte Zahl von Lagerinsassen in ein anderes Lager bringen soll – angeblich; denn man vermutet, und nicht mit Unrecht, daß »es in Gas geht«, daß der betreffende Transport, sagen wir: von kranken oder schwachen Leuten, eine sogenannte Selektion vorstellt, d.h. daß eine Auswahl von arbeitsunfähigen Häftlingen getroffen wird, die zur Vernichtung in einem mit Gaskammern und Krematorium ausgestatteten, großen, zentralen Lager bestimmt sind. In diesem Augenblick entbrennt nun der Kampf aller gegen alle, bzw. gewisser Gruppen oder Cliquen untereinander. Jeder sucht sich oder die ihm irgendwie Nahestehenden zu schützen, vor dem Transport zu sichern, bzw. aus der Transportliste im letzten Augenblick noch »herauszureklamieren«. Daß für jeden einzelnen, der hierbei davor gerettet wird, vertilgt zu werden, ein anderer einspringen muß, ist allen klar. Geht es doch im allgemeinen um eine Zahl, um die Zahl von Häftlingen, die den Transport ausfüllen müssen. Jeder stellt dann buchstäblich nur eine Nummer dar; auf der Liste scheinen ja eigentlich nur die Häftlingsnummern auf. Bedenken wir doch, daß beispielsweise in Auschwitz, wenn gleich bei der Aufnahme alle Habe dem Häftling abgenommen wird und er so auch ohne jedes Dokument dasteht, jeder die Möglichkeit hat, sich einen beliebigen Namen, Beruf usw. beizulegen, eine Möglichkeit, von der aus verschiedenen Gründen auch reichlich Gebrauch gemacht wird. Was allein feststeht (in den meisten Fällen in Form einer Tätowierung) und die Lagerbehörden daher einzig interessiert, ist die Häftlingsnummer. Keinem Wachtposten oder Aufseher würde es einfallen, wenn er einen Häftling »zur Meldung bringen« will – was meist wegen »Faulheit« erfolgt -, seinen Namen abzuverlangen; er schaut vielmehr bloß auf die Nummer, die jeder Häftling an bestimmten Stellen von Hose, Rock und Mantel vorschriftsmäßig angenäht tragen muß, und notiert sie (ein wegen seiner Folgen nicht wenig gefürchtetes Geschehnis).
    Kehren wir nun zu dem Falle eines bevorstehenden Transports zurück! Zu abstrakt-moralischen Überlegungen hat der Häftling in dieser Situation weder Zeit noch Lust. Jeder denkt nur daran, für die Seinen, die daheim auf ihn warten, sich am Leben zu erhalten und diejenigen aus dem Lager, mit denen er sich irgendwie verbunden fühlen mag, zu sichern. Er wird daher bedenkenlos einen andern, eine andere »Nummer«, in den Transport einreihen lassen.
    Aus dem oben Angedeuteten geht bereits hervor, daß die Capos eine Art negativer Auslese darstellten: nur die brutalsten Individuen taugten zu diesem Posten – wobei wir von Ausnahmen, die es glücklicherweise natürlich auch hier gab, bewußt absehen. Aber neben dieser von der SS getroffenen, sozusagen aktiven Auslese gab es auch noch eine passive: Unter den Lagerinsassen, die sich viele, viele Jahre in Lagern aufhielten, von einem Lager in das andere und schließlich insgesamt in Dutzende von Lagern gebracht wurden, konnten sich im Durchschnitt nur jene am Leben erhalten, die in diesem Kampf um die Lebenserhaltung skrupellos waren und auch vor Gewalttätigkeit, ja sogar nicht einmal vor Kameradschaftsdiebstahl zurückschreckten. Wir alle, die wir durch tausend und abertausend glückliche Zufälle oder Gotteswunder – wie immer man es nennen will – mit dem Leben davongekommen sind, wir wissen es und können es ruhig sagen: die Besten sind nicht zurückgekommen.

Der Bericht des Häftlings Nr. 119 104: Ein psychologischer Versuch
     
    Wenn hier von der »Nummer« 119 104 der Versuch unternommen wird, eine Schilderung dessen zu geben, was dieser Häftling »als Psychologe« im Konzentrationslager erlebte, dann muß von vornherein bemerkt werden, daß er im Konzentrationslager natürlich nicht »als Psychologe« tätig war, ja nicht einmal als Arzt (außer in den letzten Wochen). Dies ist um so wichtiger, als es ja nicht um eine Darstellung seiner persönlichen Lebensweise geht, sondern der Weise, in der eben der gewöhnliche Häftling das Lagerleben erlebte. Und ich sage nicht ohne Stolz, daß ich nicht mehr als solch ein »gewöhnlicher« Häftling – eben nichts als die bloße Nr. 119 104 war. Die meiste Zeit war ich als Erdarbeiter und beim Bahnbau als Streckenarbeiter beschäftigt. Während einige wenige Kollegen das Glück hatten, in halbwegs geheizten,
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