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... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)

... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)

Titel: ... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
Autoren: Viktor E. Frankl
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dieser Gruppe wurde Alkohol in praktisch beliebigen Mengen sogar von der SS zur Verfügung gestellt.

Die erste Selektion
     
    Mehr oder weniger wir alle aus unserem Transport befanden uns also in solch einem Begnadigungswahn, der da meint, noch immer könne alles gut ausgehen. Denn was sich jetzt abspielte, dessen Sinn konnten wir noch nicht erfassen; der Sinn sollte uns erst am Abend klar werden. Wir wurden angewiesen, alles Gepäck im Waggon zu lassen, auszusteigen und je eine Männer- und Frauenkolonne zu formieren, um schließlich vor einem höheren SS-Offizier zu defilieren. Ich hatte merkwürdigerweise die Courage, meinen Brotsack, unter dem Mantel recht und schlecht versteckt, doch mitzunehmen. Da sehe ich, daß meine Kolonne Mann für Mann auf den SS-Offizier zugeht. Ich kalkuliere: wenn er den schweren Brotsack, der mich nach der Seite zieht, bemerkt, dann gibt es zumindest eine Ohrfeige, die mich in den Dreck sausen läßt; das kannte ich schon von anderswo her... Mehr instinktiv richte ich, je näher ich diesem Mann zu stehen komme, meinen Körper immer mehr auf, damit er ja nicht merke, daß ich eine Last verberge. Nun steht er vor mir: groß, schlank, fesch, in tadelloser und blitzblanker Uniform – ein eleganter, gepflegter Mensch, voll Distanz zu uns Jammergestalten, die wir wohl übernächtig und recht verwahrlost aussehen. In nonchalanter Haltung steht er da, den rechten Ellbogen mit der linken Hand stützend, die rechte Hand erhoben und mit dem Zeigefinger dieser Hand ganz sparsam eine kleine winkende Bewegung vollführend – bald nach links, bald nach rechts, weit öfter nach links... Keiner von uns konnte das Geringste ahnen von der Bedeutung, die diese winzige Bewegung eines menschlichen Zeigefingers hatte – bald nach links, bald nach rechts, weit öfter nach links. Nun komme ich dran. Kurz vorher hat mir jemand zugeflüstert, nach rechts (»vom Zuschauer gesehen«) gehe es zur Arbeit, nach links in ein Lager für Arbeitsunfähige oder Kranke. Ich lasse die Dinge an mich herankommen – das erste Mal für viele kommende Male. Mein Brotsack zieht mich nach links, ich recke mich und strecke mich aufrecht. Der SS-Mann schaut mich prüfend an, scheint zu stutzen oder zu zweifeln, legt mir beide Hände auf die Schultern, ich bemühe mich, »zackig« zu wirken, stehe stramm und aufgerichtet, da dreht er langsam meine Schultern, so daß ich nach rechts hingewendet werde – und ich haue nach rechts ab.
    Am Abend wußten wir um die Bedeutung dieses Spiels mit dem Zeigefinger: es war die erste Selektion! Die erste Entscheidung über Sein oder Nichtsein; für die gewaltige Majorität unseres Transports, etwa 90%, war es das Todesurteil. Es wurde in den nächsten Stunden vollstreckt. Wer nach links (von uns aus gesehen) geschickt wurde, marschierte von der Bahnhoframpe weg direkt zu einem der Krematoriumsgebäude, wo er – wie mir dort Beschäftigte berichteten – Aufschriften in mehreren europäischen Sprachen lesen konnte, die das Gebäude als »Bad« deklarierten. Dann bekamen alle nach links gewiesenen Transportteilnehmer je ein Stück RIF-Seife in die Hand gedrückt. Was sich jeweils weiter abspielte, darüber darf ich schweigen, nachdem authentischere Berichte es bereits bekanntgemacht haben. Uns, der Transportminorität von damals, wurde es am Abend des gleichen Tages bekannt. Ich fragte Kameraden, die schon länger im Lager waren, wohin mein Kollege und Freund P. gekommen sein mochte. »Ist er auf die andere Seite geschickt worden?« »Ja«, sage ich. »Dann siehst du ihn dort«, sagt man mir. Wo? Eine Hand zeigt zu einem wenige hundert Meter entfernten Schlot, aus dem eine viele Meter hohe Art Stichflamme unheimlich in den weiten, grauen polnischen Himmel emporzüngelt, um sich in eine düstere Rauchwolke aufzulösen. Was ist dort? »Dort schwebt dein Freund in den Himmel«, gibt man mir roh zur Antwort. Noch immer verstehe ich nicht; bald aber beginne ich zu verstehen – sobald man mich »einweiht«.
    Dies alles ist vorwegnehmend erzählt worden. Psychologisch gesehen, hatten wir, vom geschilderten Morgengrauen vor dem Bahnhof bis zum ersten Schlaf im Lager, noch einen langen, langen Weg vor uns. Der Weg unserer Kolonne vom Bahnhof, im Laufschritt zurückgelegt, von der SS-Wachmannschaft mit schußbereitem Gewehr eskortiert, führte zwischen den mit elektrischer Hochspannung geladenen Stacheldrahtalleen durchs Lager ins Desinfektionsbad – für uns bei der ersten Selektion Auserwählte
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