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Traurige Therapeuten: Roman (German Edition)

Traurige Therapeuten: Roman (German Edition)

Titel: Traurige Therapeuten: Roman (German Edition)
Autoren: Ingomar von Kieseritzky
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sich näher. Wenn sie über ihre Ekzeme und Flechten redet, ist sie ganz vernünftig und benutzt nicht ihren frankophilen Jargon. Etwas sei faul in und an der Praxis, sagte ich zu ihr.
    Sie trank Rum mit Tee. Im Hinterhof fiel Schnee. Es stank nach Pipi-Chat. Ich machte Notizen in meinem krokodilledernen Notizbuch. Einfache Sätze, Protokollsätze, die jedem Sachverhalt gerecht werden. Reduktion auf der ganzen Linie, aber nützlich!
    Es ist alles ein Elend, sagte die Horak nach der achten Tasse Rum mit Tee.
    Sie fasste Vertrauen zu mir und wäre bereit gewesen, mir eine besonders phantasievolle Flechte auf ihrem Schambein links zu zeigen, aber ich lehnte dankend ab.
    Die Zeit, sagte ich, sei noch nicht reif.
    Die Flechte schon, sagte Frau Horak.
    Draußen fiel Schnee, schöne dicke Flocken.
    Meine Schleimhäute, ich meine die in der Nase, bereiteten einen Anfall vor. Frau Horak ließ es laufen, drehte sich hin und wieder eine Spindel aus Kleenex für die Nasenlöcher, bohrte ein bisschen, legte die Spindel in ihren Aschenbecher und stöpselte sich wieder mit Mentholpfropfen. Nach jedem Zug aus ihrer Zigarette hustete sie wie ein lungenkranker Terrier.
    Ich wollte etwas Vernünftiges sagen und merkte, dass ich so sprach, als hätte ich einen unreparierten Wolfsrachen und Polypen gleichzeitig. Ich hatte zu sagen versucht:
    Man sollte die ganze Praxis gründlich –
    Was, fragte die Horak, ich habe Sie nicht verstanden.
    Wir schnäuzten uns schweigend eine lange Zeit. Dann ging’s besser.
    Praxis desinfizieren, sagte ich, vielleicht Ströme von Allergenen!
    Fluten, sagte Frau Horak.
    Jacke wie Hose; ob es sich nun um Ströme oder Fluten handelte; unabhängig vom metaphorischen Gebrauch waren die Substanzen in allen Räumen vorhanden und virulent.
    Frau Horak goss sich Rum auf ihre Teeblätter, fixierte mich nach einem Schluck und sagte den nun folgenden Satz, der mir zu denken gab: Es ist der Mensch, sagte sie, in seiner Subjektauflösung, der die Allergene, den Schmutz, das Schädliche, die Viren und Bazillen – alles! – in Gang gesetzt hat wie eine universelle Stimulation, um sich abzuschaffen, vor allem durch die Haustierhaltung.
    Sie sind mir sympathisch, sagte ich, Sie denken ethisch, ich heiße Arthur.
    Dieser Satz oder Gedanke sei hoffentlich nicht auf Lacans Misthaufen gewachsen.
    Ich heiße Anita, sagte die Horak, ist mein Misthaufen.
    Desinfizieren!
    Die Generalkatastrophe war nicht mein chronischer Schnupfen, der chronische Husten, der Gestank und der Schmutz und auch nicht der Mangel an Patientengut mit qualitativ interessant beschädigten Tieren und Besitzern, sondern die Plage mit den Pharao-Ameisen. Vor einem Jahr hatte Freund Curtius einen Herrn behandelt, der den traulichen Umgang mit Insekten schätzte und sie in Terrarien hielt. In diesem speziellen Fall waren es Pharaoameisen, Singular Monomorium pharaonis , regsame Tiere, sehr lebhaft und staatenbildend, ewig auf Futtersuche. Bitter beklagte sich der Patient über seinen Hof. Die Königin mache nichts, die Untertanen pennten den ganzen Tag, kaum Bewegung. Die Ameise an sich, sagte der Staatenlenker, tut sonst eigentlich immer was, man muss ihnen gar nicht sagen, was sie tun sollen, sie tun es einfach. Aber jetzt: Stagnation, vielleicht Resignation, man arbeitet nicht mehr, man strömt nicht mehr in Kolonnen, man sammelt nicht, man füttert nicht, man baut nicht mehr. Man gibt sich der Faulheit hin.
    Curtius diagnostizierte nach intensiver Analyse einiger Exemplare eine Stoffwechselstörung infolge der dieser Gattung typischen Dunkelangst. Man müsse den Tierchen Licht geben, die Sonne müsse über dem schläfrigen Staat aufgehen, dann seien die Untertanen wieder glücklich und gingen zur Arbeit.
    Ich persönlich habe die induktiven Schlüsse von Curtius schon immer bewundert, auch dann, wenn sie in der Praxis zu Resultaten führten, die nicht immer einen harmonischen Einklang zu den Prämissen unterhielten.
    Der Liebhaber der Ameisen fand die Idee oder Therapie großartig, hinterließ 650 Euro für den Ankauf einer Sonne für den faulen Staat. Curtius ließ von Frau Horak einen 100-Watt-Strahler aus der Serie Stranne bei Ikea kaufen und nahm das faule Volk in Pension. Der Besitzer erschien nie wieder; die Birne über dem Terrarium knallte eines Tages durch, und Anita deponierte den Staat in der Besenkammer, wo er sich ganz unbemerkt entwickelte, wie es sich für ein ordentliches Staatswesen gehört.
    Und so nahm die Fatalität ihren selbst
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