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Traumtagebuecher

Traumtagebuecher

Titel: Traumtagebuecher
Autoren: Jean Sarafin
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ab. Auch nicht, dass er sie noch hatte. Jetzt kam es darauf an. Einatmen, halten, halten, halten … erst nachdem ich mir vollkommen sicher war, dass ich unter allen Umständen ruhig und überlegen bleiben würde, entließ ich die Luft mit einem zischenden Geräusch.
    »Willst du es wirklich darauf anlegen?«
    »Auf eine Leibesvisitation?« Sein Lächeln wuchs in die Breite, und für einen Moment lang war ich sprachlos. Auch wegen des prüfenden Blickes, den er über mich gleiten ließ. So, als spiele er wirklich mit dem Gedanken, eine Leibesvisitation durch mich könne ihm Spaß bereiten. Ich hatte mit Wut gerechnet, mit Aggression und verbalen Tiefschlägen – aber nicht mit erotischen Avancen. Ein Fehler, denn das Adrenalin schien sich unter seiner Aufmerksamkeit in flüssige Hitze zu verwandeln. Emotionen, die ich nicht einordnen konnte, brannten durch meine Adern und die kleinen Haare auf meiner Haut richteten sich auf. Als spürte Jonah meine plötzliche Unsicherheit verzogen sich seine Lippen weiter, bis das Lächeln beinahe echt wirkte. Es war weniger provokant, aber noch gefährlicher für meinen ohnehin eher fragwürdigen Seelenfrieden.
    Dann tat er wieder etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Er zog den Grund für damals und heute aus der Hosentasche und hielt ihn an der kurzen, silbernen Kette gut sichtbar vor sein Gesicht. So als müsse er prüfen, warum die Taschenuhr das Risiko wert war, mit ihm alleine im Schulflur zu sein. Ich widerstand der Versuchung, sofort nach ihr zu greifen. Genau damit rechnete Jonah. Der einzige Grund, warum er die Uhr überhaupt hervorgeholt hatte.
    Als ich nicht reagierte, richtete sich sein Blick wieder auf mich. »Und die richtige Frage ist nicht, ob ich es darauf anlegen will … die Frage ist, ob DU es darauf anlegen willst.«
    War das eine ernste Frage? Sechs Jahre währende Ungerechtigkeit und immer noch anhaltende Angst vor Dunkelheit übernahmen die Antwort. Ich trat genau in dem Moment zu, als Superschlumpf um die Ecke kam und Jonah ablenkte. Eine Sekunde später hatte ich dem überrumpelten Albtraum meiner Kindheit die Taschenuhr abgenommen und war weit genug zurückgewichen, um aus seiner Reichweite zu sein.
    Die Stimme hinter mir erwischte mich vollkommen unvorbereitet und machte meinen ganzen Plan – Jonah auflauern, überrumpeln, Uhr nehmen und wegrennen – zunichte. Nicht, dass es ein guter Plan gewesen wäre, aber immerhin hatte ich vorher studiert, wie ich Jonah allein in der Schule erwischen konnte und immerhin dabei sogar auf den Schülerlotsen geachtet. Immerhin reichte nicht aus.
    »JETZT gehen wir wirklich zum Direktor.«
    Ich drehte mich um und ließ den Schülerlotsen aus den Augen. Superschlumpf stand hinter mir. Wer hätte auch ahnen können, dass an dieser Schule mehrere Schüler Flurdienst hatten? Aus dem Augenwinkel sah ich Jonahs triumphierenden Gesichtsausdruck in sich zusammenfallen, als Justus Früh ihm deutete ebenfalls mitzukommen. Zu spät.

    Das Warten war das Schlimmste. Das war es immer und genau deswegen musste man es überhaupt machen. Was hatte es schon für einen Sinn, den schwebenden Verdacht, die Schuldgefühle, die Überlegungen zu möglichen Strafen und unangenehmen Gedanken früh zu unterbrechen?
    Ich starrte auf meine Schuhe und dachte darüber nach, wie psychologisch effektiv doch diese Strafe-in-der-Strafe war. Die unbequemen Holzstühle, das unangenehme Neonlicht und die vorwurfsvolle Miene der Sekretärin inklusive. Sie tippte so laut und so angespannt, dass ihre Aufmerksamkeit ganz offensichtlich nicht auf uns gerichtet war. So offensichtlich, dass selbst dem größten Schuldeppen klar war, dass sie uns sehr genau beobachtete. Das Leder meiner Schuhe könnte wirklich mal wieder etwas schwarze Schuhcreme vertragen . Verflixt! Genau solche Gedanken meinte ich. Sie flogen einem förmlich zu, wenn man sich nicht gegen jedwede Form von Schuldgefühlen wappnete.
    Ich sah auf und stellte fest, dass mich Jonah immer noch ansah. War er die Schlange oder das Kaninchen, das seinen Blick nicht abwenden und nicht blinzeln konnte? Ich schnaubte und lehnte mich zurück, als würde mir der harte Holzstuhl nichts ausmachen. Meinetwegen konnten Jonahs Augen bei dem Versuch mich nieder zu starren austrocknen. Blicke konnten nicht töten – auch nicht, wenn sie es noch so sehr versuchten.
    Die Lippen von meinem Gegenüber verzogen sich, nur einen Hauch weit, als könne er meine Gedanken lesen. Wahrscheinlich überlegte er gerade mich
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