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Traumtagebuecher

Traumtagebuecher

Titel: Traumtagebuecher
Autoren: Jean Sarafin
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Dolche in meinem Rücken spüren. Mindestens sieben Augenpaare verfolgten meinen Abgang … aber nur eines davon hatte ihn ausgelöst und nur die dazugehörige Person interessierte mich wirklich.

    Einatmen, halten, halten, halten … ausatmen, halten … Ich versuchte meine Angst und die Aufregung zu unterdrücken. Doch mein Herzschlag klang so laut in meinen Ohren, dass er die anderen Geräusche um mich herum übertönte. Wenn ich die Augen schloss, nahm das Schlag-Schlag meine gesamte Wahrnehmung in Anspruch und es schien unmöglich, dass niemand anderes diesen Laut hören konnte. War es aber, deswegen verharrte ich reglos in meiner kleinen Nische und bemühte mich darum, möglichst unauffällig zu sein. Eine Eigenschaft, die ich perfektioniert hatte – zumindest bis vor fünf Minuten.
    Seit diesen fünf Minuten stand ich in einem Schatten, der so finster war, dass allein das Fehlen von Licht schon gereicht hätte, mich nervös zu machen. Doch manchmal musste man über seinen Schatten springen – welch blödes Wortspiel – und mit der Dunkelheit klarkommen. Trotzdem zitterte ich wie Espenlaub und konnte nur noch sehr flach atmen.
    Aber es schien zu funktionieren. Die anderen Schüler stürmten an mir vorbei, ignorierten mich in Gruppen und tauschten sogar geflüsterte Geheimnisse in meiner Hörweite miteinander. Selbst Rebecka und die Dunkelhaarige schienen keinerlei Notiz von mir zu nehmen. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, David zu gefallen, der mit ihnen Richtung Klassenzimmer flanierte. Der Anblick ihrer ebenmäßigen Gesichter, die Lippen zu einem modelmäßigen Lächeln verzogen, genügte, um mich von der Finsternis abzulenken. Sogar meine Angst verschwand und machte einem Gefühl Platz, das ich nicht ergründen konnte und wollte.
    Dieses Mal ignorierte ich das Klingeln absichtlich. Ebenso den Drang aus der Finsternis zu fliehen und mich den anderen Schülern anzuschließen. Bewusst verdrängte ich den Gedanken daran, dass ihre Gegenwart Schutz bot und konzentrierte mich auf die Wut, die ich seit meiner Ankunft in der Schule in meinem Innersten brodelte. Sie war verschwunden. Na toll!
    Dabei war ich doch gar nicht diejenige, die Schutz benötigte. Ich legte mehr Gewissheit in den Gedanken hinein, als ich empfand, und erinnerte mich daran, dass ich diejenige war, die im Schatten stand, diejenige, die lauerte. Es half trotzdem nur bedingt. Einatmen, halten, halten, halten, und … ausatmen, warten, warten, warten und … langsam übernahm wieder das Adrenalin die Oberhand und versetzte mich in eine Art Hochspannung. Ich wich tiefer in die Nische zurück. Nur für den Fall der Fälle.
    Er trat nicht ein. Niemand schaute überhaupt in meine Richtung. Nicht der strohblonde Klassenclown, mit dem ich Mathe gehabt hatte und der seine Nase in die gefärbten Haare seiner Freundin grub, nicht die Cheerleader in ihren rotweißen Kostümen und auch nicht die Gang der Wir-sind-so-verwahrlost-dass-esschon-wieder-cool-ist. Alle strömten an mir vorbei und in ihre Unterrichtsräume. Langsam leerte sich der hellgraue Gang und gab den Blick frei auf die Spindreihe. Erst jetzt bemerkte ich, wie abenteuerlich einzelne Fächer gestaltet waren. Offensichtlich galt bei einigen: Individualität gegen die Norm. Gegen die farbenfrohen Portraits, Graffiti oder Collagensammlungen war meine »666« noch harmlos.
    Der letzte Schüler, der in Sichtweite gewesen war, ging in den Raum, in dem ich jetzt auch sein sollte. Das Zufallen der Tür klang in dem leeren Flur sehr laut. Es machte mich nervös. Aber nicht halb so nervös, wie es die plötzliche Stille tat.
    Trotzdem widerstand ich der Versuchung, meinen Stundenplan hervorzukramen. David war bereits gegangen, es gab keinen rationalen Grund, meine Stunden mit seinen zu vergleichen, um ihm nicht über den Weg zu laufen. Ein Vergleich wäre lediglich eine irrationale Übersprunghandlung, um meine Nervosität zu überspielen. Außerdem konnte mich jedes Geräusch verraten. Ich schluckte bei dem Gedanken und versuchte mein Herz zum leiser Schlagen zu animieren. Erfolglos.
    Dabei musste er schon in Hörweite sein!
    Ich schloss kurz die Augen und schickte ein letztes Stoßgebet gen Himmel, während die Geräusche näher kamen. Beim zweiten Läuten – dem Beginn des Unterrichtes – trat ich um die Ecke. Und war beinahe so schockiert, wie die drei anderen Schüler. Obwohl ich auf mein Gegenüber vorbereitet gewesen war, benötigte ich eine Sekunde, um mich von seinem Anblick zu lösen.
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