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Traumtagebuecher

Traumtagebuecher

Titel: Traumtagebuecher
Autoren: Jean Sarafin
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    »16ter Buchstabe des griechischen Alphabeths, Neutrum, Majuskel. Als Ziffer hatte der Buchstabe den Wert 80 … im milesischen Prinzip …«
    Das Schweigen um mich herum wurde so dick, dass es beinahe bedrohlich wirkte und ich verabschiedete mich von meinem kurzen Seelenfrieden. Irritierte, beeindruckte und hämische Gesichtsausdrücke waren mir zugewandte. Naja, irritiert und beeindruckt war eigentlich nur Mister Förster. Wahrscheinlich der einzige, der etwas mit meiner Antwort anfangen konnte. Geistige Notiz an mich selbst: Intelligente Antworten auf die Frage beziehen und nicht Fachübergreifend-Klugscheißen – versteht hier keiner.
    »Pi ist eine Kreiszahl mit dem Anfangswert 3,14159. Die Zahl ist ins Unendliche fortsetzbar … und auch als Archimedes-Konstante bekannt.«
    Die anderen Kursteilnehmer wandten sich zum Teil mit herablassenden Gesichtern ab, geflüsterte Bemerkungen mehr oder weniger schmeichelhaften Inhalts wurden ausgetauscht, und Förster nickte gönnerhaft, bevor er sich wieder der Tafel zuwandte. Das Quietschen der Kreide auf der grünen Unterlage war beinahe mehr, als mein Karma ertragen konnte. Das Geräusch schmerzte körperlich und die Abwehrreaktion meines Körpers manifestierte sich genau zwischen meinen Schläfen.
    »Hei, Streber!«
    Die Dunkelhaarige, die sich einen Doppeltisch mit Rebecka Superschülerin, teilte, lehnte sich ein wenig vor und nutzte Försters Schreiben dazu, mir einen Zettel zu reichen. Unter dem leisen Kichern einiger Jungs, deren Aufmerksamkeit sich auf uns fokussierte, nahm ich den Wisch an mich. »Schade, dass du nicht immer so schlau warst«, stand in roter, akkurater Schrift auf dem Zettel, darunter der Vermerk »Daneben gekackt.«
    »Fräulein Morgen? Entschuldigung, dass ich Sie und Jessica Slater unterbreche …« Förster klang selbstgefällig gut gelaunt und brachte meine Nachbarin allein mit seiner Tonlage aus der Ruhe. »Kommen Sie, Mädchen. Zieren Sie sich nicht so.« Er deutete auf die Tafel, nur für den Fall, dass Fräulein Morgen nicht zugehört hatte. Eine unfaire Hilfestellung, wie meine aufgewühlten Emotionen fanden. Die Versuchung, den Zettel einfach in der Hand zu zerknüllen, war beinahe übermächtig, und ich spürte, wie sich meine Finger langsam krümmten. Meine Nachbarin stand auf. Ich erstarrte. Hatte Förster mir gerade zugezwinkert? Direkt, bevor er sich zur Tafel umgedreht hatte?
    Ich starrte Blondie hinterher, wie sie tapfer und gefasst zur Tafel stolzierte, ganz Musterschülerin. Tatsächlich, Försters Blick blieb einen Augenblick an mir hängen, glitt zu dem Zettel in meiner Hand, dann wandte sich der Lehrer der Tafel und der rechnenden Schülerin zu.
    Ich nutzte die Gunst der Stunde und drehte den Zettel herum. Ein Baby, klein, moppelig und ein wenig schrumpelig strahlte mir entgegen. Rabenschwarze, struppige Haare standen in alle Himmelsrichtungen, doch das Augenmerk wurde auf den Wickeltisch gelenkt. Auf die offene Windel und das ganz offensichtlich danebengekackte Häufchen, das zur Hälfte über den kleinen Babypopo geschmiert hatte.
    Wer zum Teufel fotografierte denn so etwas?
    Mein zweiter Gedanke war auch gleichzeitig die Antwort auf Gedanke Nummer eins. Das Muttermal neben dem Bauchnabel gab Aufschluss auf die Identität des Babys – und auf die Eltern, die den Anblick auf Zelluloid gebannt hatten.
    Super! Ganz große Klasse … Aus dem Augenwinkel sah ich, wie einige andere Schüler kleine Zettel in die Höhe hielten. Niemand musste mir erklären, was wohl darauf abgebildet war. Ein Hoch auf David, den tollsten Stiefbruder, den man sich wünschen konnte.
    Ich legte das Bild vor mir auf den Tisch, in die Deckung meiner Schlamperrolle. Abstreiten war eine Option, aber nur eine kurze. Zwar kannte nur ich das einzige, dafür aber sehr einprägsame, Muttermal meines Körpers – Groß, eine Art heller Vollmond in dem sich eine dunklere Mondsichel befand und ein Venusstern innerhalb dieser Mondsichel – aber warum das Offensichtliche leugnen?
    Mit dem Zeigefinger strich ich über das Bild, und die blassrosa Wundmale, die an einigen Stellen meine Hand verunzierten, schmerzten plötzlich wie am ersten Tag. Für einen Augenblick kämpfte ich nun doch gegen die Tränen, die ich so lange zurückgehalten hatte. Acht Jahre lang hatte ich nicht einen einzigen Tropfen vergossen, ich hatte nicht beim Tod meiner Eltern geweint, nicht im Krankenhaus, als meine eigenen Verbrennungen behandelt worden waren, nicht bei der Beerdigung
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