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Traumschlange

Titel: Traumschlange
Autoren: Vonda N. McIntyre
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mußte Vollmond sein; obwohl die Wolken alles verhingen, zerstreuten sie das Licht doch so, daß der Himmel von Horizont zu Horizont grau aussah. Jenseits der Zelte erhoben sich vom Untergrund formlose Schatten. Hier, nah am Wüstenrand, gab es genug Wasser, so daß Buschgruppen und Strauchketten gediehen und allerlei Arten von Geschöpfen Schutz und Unterhalt boten. Der schwarze Sand, der im Sonnenlicht funkelte und blendete, glich bei Nacht einer Schicht aus weichem Ruß. Schlange trat aus dem Zelt, und der Eindruck von Weichheit zerflog; ihre Stiefel sanken knirschend in die spitzen, scharfen Sandkörner ein.
    Stavins Familie wartete; sie saß zusammengedrängt zwischen den dunklen Zelten, die dicht an dicht von einem Sandboden aufragten, aus dem man die Sträucher gerissen und anschließend verbrannt hatte. Sie schaute ihr wortlos entgegen, hoffte nur mit den Augen; die Gesichter zeigten keinerlei Ausdruck. Unter ihnen saß eine Frau, die etwas jünger war als Stavins Mutter. Wie sie war sie in ein langes, weites Gewand gekleidet, doch außerdem trug sie das einzige Schmuckstück, das Schlange bei diesem Volk sah – den Ring eines Oberhaupts, der an einem Lederband umihren Hals hing. Sie und der ältere Ehemann waren durch ihre Ähnlichkeit als nahe Verwandte kenntlich – scharfe Gesichtskonturen, hohe Wangenknochen, seine Haare weiß, ihre ursprünglich tiefschwarzen Haare im Ergrauen begriffen, ihrebeiden Augenpaare von dunklem Braun, das sich unter der Sonne zum Überleben am besten eignete. Am Boden zu ihren Füßen sprang ein kleines schwarzes Tier ab und zu gegen ein Netz und stieß gelegentlich einen schwachen, schrillen Schrei aus.
    »Stavin schläft«, sagte Schlange. »Stört ihn nicht, doch geht zu ihm, für den Fall, daß er aufwacht.«
    Die Ehefrau und der jüngere Ehemann erhoben sich und gingen in das Zelt, aber der ältere Mann blieb vor ihr stehen.
    »Kannst du ihm helfen?«
    »Ich hoffe, daß wir es können. Der Tumor ist fortgeschritten, aber er scheint von fester Beschaffenheit zu sein.« Ihre Stimme klang wie aus der Ferne und ein wenig hohl, als lüge sie. »Dunst wird am Morgen bereit sein.«
    Sie verspürte noch immer das Bedürfnis, ihn irgendwie zu ermutigen, aber sie sah keine Möglichkeit.
    »Meine Schwester wünscht mit dir zu sprechen«, sagte er und ließ die beiden allein, ohne sie einander vorzustellen, ohne sich selbst durch den Hinweis aufzuwerten, daß die hochgewachsene Frau das Oberhaupt dieser Stammesgruppe war. Schlange blickte sich um; die Zeltklappe fiel. Sie spürte ihre Erschöpfung stärker, und auf ihren Schultern war Dunst erstmals ein Gewicht, das sie als schwer empfand.
    »Bist du wohlauf?«
    Schlange wandte den Kopf. Die Frau trat mit natürlicher Anmut auf sie zu; ihr hochschwangerer Zustand verursachte eine nur geringfügige Unbeholfenheit. Schlange mußte den Blick heben, um den ihren erwidern zu können. Sie besaß winzige feine Linien an den Augenwinkeln, als lache sie manchmal, wenn auch vielleicht nur insgeheim. Sie lächelte, war aber besorgt.
    »Du siehst sehr müde aus. Soll ich dir eine Bettstatt bereiten lassen?«
    »Jetzt nicht«, antwortete Schlange. »Noch nicht. Ich werde erst danach schlafen.«
    Das Stammesoberhaupt forschte in ihrem Gesicht, und Schlange empfand ein Gefühl der Verwandtschaft mit der Frau, das sich aus ihrer geteilten Verantwortung ergab. »Ich glaube, ich verstehe. Gibt es irgend etwas, das wir dir geben können? Benötigst du Unterstützung bei deinen Vorbereitungen?«
    Schlange stellte fest, daß sie sich mit den Fragen auseinandersetzen mußte, als wären sie verwickelte Probleme. Sie wälzte die Fragestellungen in ihrem ermüdeten Verstand, untersuchte sie, zergliederte sie, und endlich begriff sie ihre Bedeutung.
    »Mein Pony braucht Futter und Wasser...«
    »Dafür ist bereits gesorgt.«
    »Und ich benötige jemanden, um mir mit Dunst zu helfen. Jemanden mit Kraft. Aber es ist noch wichtiger, daß es jemand ohne Furcht ist.«
    Das Oberhaupt nickte. »Ich würde selber helfen«, sagte die Frau und lächelte wieder, aber nur schwach. »Seit kurzem jedoch bin ich ein bißchen plump. Ich werde jemanden suchen.«
    »Danke.«
    Wieder ernst, neigte die ältere Frau den Kopf und entfernte sich langsam zu einer Ansammlung von Zelten. Schlange sah ihr nach und bewunderte ihre Anmut. Sie fühlte sich im Vergleich mit ihr klein, jung und schmuddlig. Sand begann sich von ihrem Handgelenk zu entwinden. Sie spürte das erwartungsvolle
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